Janusz L. Wiœniewski

Eins@mkeit im Netz

 

 

Neun Monate davor...

 

Die meisten Selbstmörder springen von Bahnsteig elf, Gleis vier des Bahnhofs Berlin Lichtenberg vor den Zug. So lautet die offizielle, wie immer gründliche deutsche Statistik für alle Berliner Bahnhöfe. Das sieht man auch, wenn man auf der Bank an Gleis vier auf Bahnsteig elf sitzt. Die Schienen glänzen dort stärker. Die häufigen Notbremsungen hinterlassen für lange Zeit blankgeschliffene Gleise. Außerdem ist das sonst dunkelgraue und verschmutzte Gleisbett aus Beton an einigen Stellen über die ganze Länge des Bahnsteigs viel heller als sonst, hier und da sogar fast weiß. An diesen Stellen haben die Reinigungstrupps starke Lösungsmittel eingesetzt, um die Blutflecken der von den Lokomotiven und Waggons mitgeschleiften und zerfetzten Körper der Selbstmörder abzuwaschen.

            Lichtenberg ist einer der abgelegendsten Bahnhöfe Berlins und so verwahrlost wie kein anderer. Wenn man sich am Bahnhof Lichtenberg das Leben nimmt, hat man den Eindruck, eine graue, schmutzige, nach Urin stinkende Welt aus bröckelndem Putz hinter sich zu lassen, die voller verhetzter, trauriger oder sogar verzweifelter Menschen ist. Eine solche Welt für immer zu verlassen, ist viel leichter.

            Der Aufgang über die steinerne Stufen zu Bahnsteig elf ist der letzte in der Unterführung zwischen der Schalterhalle und dem Transformatorraum am Ende des Tunnels. Gleis vier ist das äußerste Gleis des Bahnhofs. Wer in der Schalterhalle von Berlin Lichtenberg den Entschluß faßt, sich vor einen Zug zu werfen, lebt am längsten, wenn er erst noch den Weg bis zu Gleis vier, Bahnsteig elf gehen muß. Deshalb entscheiden sich die Selbstmörder fast immer für Gleis vier, Bahnsteig elf.

            Auf der Rampe von Gleis vier stehen zwei graffitibeschmierte und von Messern malträtierte Holzbänke, die mit riesigen Schrauben in dem Betonboden verankert sind. Auf der Bank, die dem Ausgang der Unterführung am nächsten war, saß ein ausgemergelter, stinkender Mann. Seit Jahren schon lebte er auf der Straße. Er zitterte vor Kälte und Angst. Seine Füße waren unnatürlich verdreht, die Hände steckten in den Taschen einer zerschlissenen, speckigen Nylonjacke. An einigen Stellen war sie mit gelbem Klebeband geflickt, auf der in Blau die Aufschrift Just do it prangte. Er rauchte eine Zigarette. Neben ihm standen ein paar Bierdosen und eine leere Wodkaflasche. In einer Aldi-Tüte, von der die gelbe Farbe längst abgegangen war, befand sich sein ganzes Hab und Gut: Eine an mehreren Stellen angegokelte Decke, ein paar Spritzen, eine Tabaksdose, Zigarettenpapierchen, ein Album mit Fotos vom Begräbnis seines Sohns, ein Dosenöffner, eine Schachtel Streichhölzer, zwei Packungen Methadon, ein Buch von Remarque mit Kaffe- und Blutflecken darauf, ein altes Portemonnaie aus Leder mit vergilbten, zerrissenen und wieder zusammengeklebten Fotos einer jungen Frau, ein Diplom über einen Hochschulabschluß und ein polizeiliches Führungszeugnis. An diesem Abend hatte der Mann einen Brief und einen Hundertmarkschein mit einer Büroklammer an eines der Fotos geheftet.

            Jetzt wartete er auf den Zug von Bahnhof Zoo nach Angermünde. Zwölf Minuten nach Mitternacht. Ein Schnellzug mit obligatorischer Platzreservierung und einem Mitropawagen bei der ersten Klasse. Der Zug hält nicht in Lichtenberg. Er rast auf Gleis vier durch und verschwindet in der Dunkelheit. Er hat über zwanzig Waggons. Im Sommer sogar mehr. Der Mann wußte das seit langem. Er war schon viele Male hier gewesen, wenn der Zug durchfuhr.

            Der Mann war verängstigt. Heute war es aber eine ganz andere Angst. Eine universale, eine, die allgemein bekannt, benannt und gründlichst untersucht war. Er wußte genau, wovor er Angst hatte. Am schlimmsten ist die Angst vor etwas, das man nicht benennen kann. Gegen die namenlose Angst helfen nicht einmal Spritzen.

            Heute war er zum letzten Mal auf diesen Bahnhof gekommen. Danach würde er nie wieder einsam sein. Nie mehr. Einsamkeit ist das Schlimmste. Während er auf den Zug wartete, saß er ruhig und mit sich ausgesöhnt da. Fast fröhlich.

            Auf der zweiten Bank, hinter dem Kiosk mit den Zeitungen und den Getränken, saß ein anderer Mann. Es wäre schwer gewesen, sein Alter zu bestimmen. So zwischen 37 und 40. Braungebrannt und nach einem guten Eau de toilette riechend. Er trug ein schwarzes Wolljacket, helle Markenhosen, ein olivefarbenes Hemd, dessen Kragenknopf offenstand und eine grüne Krawatte. Neben die Bank hatte er einen Metallkoffer mit Aufklebern verschiedener Fluggesellschaften gestellt. Er schaltete den Komputer ein, den er aus einer schwarzen Ledertasche genommen hatte, doch gleich danach stellte er ihn neben sich auf die Bank. Der Bildschirm flimmerte in der Dunkelheit. Der Zeiger der Uhr auf dem Bahnsteig war über die Zwölf gelaufen. Der Sonntag begann, der 30. April. Der Mann stützte den Kopf in seine Hände. Er schloß die Augen und weinte.

            Der Mann von der Bank bei der Unterführung stand auf. Er griff sich die Plastiktüte, vergewisserte sich, daß der Brief und der Geldschein im Portemonnaite waren, dann ging er mit einer Bierdose in der Hand zum Ende des Bahnsteigs, dorthin wo das Signal stand. Diese Stelle hatte er sich schon vor langer Zeit ausgesucht. Als er am Getränkekiosk vorbeikam, sah er ihn. Er hatte nicht damit gerechnet, nach Mitternacht auf Bahnsteig elf noch jemanden zu treffen. Immer war er hier allein gewesen. Ein Gefühl der Unruhe ergriff ihn, das anders war als die Angst. Die Gegenwart dieses zweiten Mannes brachte seinen ganzen Plan durcheinander. Auf dem Weg zum Ende des Bahnsteigs wollte er niemandem begegnen. Das Ende des Bahnsteigs... Es würde wirklich das Ende sein.

Plötzlich verspürte er das Bedürfnis, sich von diesem Menschen zu verabschieden. Er trat an die Bank, schob den Komputer zur Seite und setzte sich dicht neben den Mann.

„Kumpel, trinkst du einen Schluck mit mir? Den letzten. Trinkst du?“ fragte er und berührte dabei dessen Schenkel; er streckte ihm die Bierdose entgegen.

 

ER: Mitternacht war gerade vorüber. Er senkte den Kopf und fühlte, daß er die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte. Seit langem hatte er sich nicht so einsam gefühlt. Alles wegen dieses Geburtstags. Während der letzten Jahre hatte er im rasenden Tempo des Alltags nur selten Einsamkeit verspürt. Einsam ist man nur, wenn man Zeit dafür hat. Er hatte keine Zeit. Er hatte sein Leben so sorgfältig organisiert, daß er keine Zeit hatte, sich einsam zu fühlen. Projekte in München und den USA, Habilitation und Vorträge in Polen, Tagungen und Veröffentlichungen. Nein, in seiner Biographie gab es in letzter Zeit keinen Leerlauf, keine Pausen für Gedanken an Einsamkeit, keine Gefühlsausbrüche oder Augenblicke der Schwäche wie jetzt eben. Hier, auf diesem grauen, verlassenen Bahnhof, zur Untätigkeit verdammt, hatte er nichts, womit er sich hätte ablenken können, um zu vergessen. Die Einsamkeit überfiel ihn wie ein Asthmaanfall. Es war nur ein Versehen, daß er jetzt hier saß und diese ungeplante Pause einlegen mußte. Ein gewöhnliches, banales, sinnloses Versehen. Wie ein Druckfehler. Er hatte vor der Landung in Berlin Tegel den Fahrplan im Internet studiert und dabei übersehen, daß die Züge von Berlin Lichtenberg nach Warschau nur werktags verkehrten. Gerade aber war der Samstag zu Ende gegangen. Er hatte sogar das Recht gehabt, das zu übersehen. Es war am Morgen gewesen, und er hatte einen Flug von Seattle hinter sich, einen Flug, der eine Woche pausenloser Arbeit abschloß.

Geburtstag um Mitternacht auf dem Bahnhof Berlin Lichtenberg. So etwas Absurdes. War er in irgendeiner Mission hier?! Dieser Ort hätte den perfekten Rahmen für einen Film abgeben können, unbedingt schwarz-weiß, über die Sinnlosigkeit, Eintönigkeit und Unmenschlichkeit des Lebens. Er war sicher, daß Wojaczek hier, in einem solchen Augenblick, das düsterstes Gedicht seines Lebens geschrieben hätte.

Geburtstag. Wie war er geboren worden? Wie war das? Wie sehr hatte es ihr wehgetan? Was hatte sie gedacht, als es ihr wehgetan hatte? Er hatte sie nie danach gefragt. Warum eigentlich nicht? Einfach so: „Mama, hat es sehr wehgetan, als du mich geboren hast?“

Heute würde er das gerne wissen, aber als sie noch lebte, war es ihm nicht eingefallen, danach zu fragen.

Jetzt gab es sie nicht mehr. Und die anderen auch nicht. Alle Menschen, die ihm am wichtigsten waren und die er geliebt hatte, waren tot. Die Eltern, Natalia... Er hatte niemanden. Niemanden von Bedeutung. Er hatte nur Projekte, Konferenzen, Termine, Geld und manchmal Anerkennung. Wer erinnerte sich überhaupt daran, daß er heute Geburtstag hatte? Wem bedeutete das etwas? Wer bemerkte es? Gab es jemanden, der heute an ihn dachte? Da kamen die Tränen, die er jetzt nicht mehr aufhalten konnte.

Plötzlich spürte er einen Stups.

„Kumpel... Trinkst du einen Schluck mit mir? Den letzten Schluck. Trinkst du?“ hörte er eine heisere Stimme sagen.

Er sah auf. Rotunterlaufene, verängstigte Augen, die in den übergroßen Augenhöhlen eines ausgemergelten, stoppelbärtigen und vernarbten Gesichts lagen, blickten ihn flehentlich an. In der ausgestreckten, zitternden Hand des Mannes, der neben ihm saß, war eine Bierdose. Der Mann bemerkte seine Tränen, rückte von ihm ab und sagte:

„Hör mal, Kumpel, ich wollte dich nicht stören. Das wollte ich wirklich nicht. Ich mag es auch nicht, wenn jemand was von mir will, wenn ich gerade weine. Ich geh schon. Weinen muß man in Ruhe. Nur dann hat man Freude daran.“

Er ließ ihn nicht weggehen, hielt ihn an der Jacke fest. Er nahm die Dose aus der Hand und sagte:

„Du störst nicht. Hör zu, du weißt gar nicht, wie sehr ich mit dir trinken will. Seit ein paar Minuten habe ich Geburtstag. Geh nicht weg. Ich heiße Jakub.“

Und plötzlich tat er etwas, das ihm in jenem Augenblick völlig natürlich vorkam und wogegen er sich nicht sträubte. Er zog den Mann an sich und umarmte ihn fest. Sein Kopf ruhte auf der Schulter in der zerschlissenen Nylonjacke. So verharrten sie eine Weile und spürten beide, daß gerade etwas Feierliches geschah. Plötzlich wurde die Stille von einem Zug zerrissen, der mit Getöse dicht an der Bank vorbeibrauste, auf der sie aneinander geschmiegt saßen. Da krümmte sich der Mann zusammen wie ein verschrecktes Kind, preßte sich an ihn und sagte etwas, das vom Geklapper der Räder übertönt wurde. Gleich darauf verspürte er Scham. Der andere mußte dasselbe empfunden haben, denn unvermittelt zog er sich zurück, stand wortlos auf und ging auf die Treppen zu, die in die den Tunnel führte. Bei einem der Abfallkörbe hielt er inne, holte ein Stück Papier aus seiner Plastiktüte, das er verknüllte und in den Metalleimer warf. Gleich darauf war er in der Unterführung verschwunden.

„Alles Gute zum Geburtstag, Jakub“, sagte er laut und trank den letzten Schluck Bier aus der Dose, die der andere neben dem flimmernden Komputer abgestellt hatte.

Es ist nur ein Augenblick der Schwäche. Eine Herzrhythmusstörung, die vorbeigeht. Er setzte sich auf und griff nach dem Handy in seiner Tasche. In einer Berliner Zeitung, die er am Morgen gekauft hatte, fand er die Reklame eines Taxiunternehmens. Er wählte die Nummer, packte den Komputer ein und zog seinen Koffer rumpelnd über den unebenen Bahnsteig zu der Unterführung, die ihn zur Schalterhalle und weiter zum Ausgang in die Stadt brachte.

Wie war das? Wie hatte der andere das gesagt? „Weinen muß man im Stillen. Nur dann hat man Freude daran...“

 

SIE: Seit langem schon hatte sich kein Mann mehr so viel Mühe gegeben, sie in eine solche Stimmung zu versetzen. Sie fühlte sich attraktiv und hatte die besten Drinks im Glas.

            „Niemand bestreitet, daß Aschenputtel eine ausnehmend unglückliche Kindheit hatte. Widerwärtige Stiefschwestern, Arbeit, die über ihre Kräfte ging, und eine furchtbare Schwiegermutter. Nicht genug damit, daß sie sich vergiften mußte, wie sie da die Asche aus dem Kasten holte, sie hatte nicht einmal MTV“, sagte der junge Mann, der ihr an der Bar gegenüber saß, und dann in schallendes Gelächter ausbrach.

            Er war ein paar Jahre jünger als sie. Höchstens fünfundzwanzig. Gut aussehend. Von perfekter Eleganz. Schon lange hatte sie keinen so harmonisch gekleideten Mann gesehen. Ja, genau: harmonisch. Er war so erlesen, wie sein schöner, maßgeschneiderter Anzug. Alles stimmte. Der Duft des Eau de toilette paßte zur Farbe der Krawatte, die Farbe der Krawatte paßte zur Farbe der Steine in den goldenen Manschettenknöpfen seines blütenweißen Hemdes. Goldene Manschettenknöpfe – wer benutzte solche Knöpfe überhaupt noch? Mit ihrer Größe und der Schattierung des Goldes paßten sie zur goldenen Uhr, die er am rechten Handgelenk trug. Und die Uhr paßte zur Tageszeit. Jetzt, am Abend, zu dem Treffen mit ihr in der Bar hatte er eine elegante, rechteckige Uhr mit einem schmalen Lederarmband von der Farbe des Anzugs. Am Morgen auf der Sitzung in der Berliner Zentrale ihrer Firma hatte er eine schwere, würdevolle Rolex getragen. Morgens hatte er auch anders gerochen. Das wußte sie genau, denn sie war extra von ihrem Platz aufgestanden und hatte sich über ihn gebeugt, um sich eine Flasche Sodawasser zu nehmen, obwohl ein ganzes Tablett mit Flaschen vor ihr stand.

            Sie hatte ihn den ganzen Vormittag über beobachtet. Er hieß Jean und war ein Belgier „aus dem absolut französischen Teil Belgiens“, wie er betonte. Sie wußte zwar nicht, worin sich der französische Teil Belgiens so sehr von dem flämischen unterschied, doch nahm sie an, daß es ganz offensichtlich eine größere Ehre war, aus dem französischen Teil zu sein.

            Wie sich später herausstellte, war Jean nicht nur nach ihrer Meinung die Hauptattraktion dieses ganzen Zirkus in Berlin. Man hatte sie aus allen Teilen Europas in die Zentrale nach Berlin geholt, um ihnen zu sagen, daß es so richtig eigentlich nichts zu sagen gab. Seit einem Jahr steckte sie zusammen mit ihrem belgischen Gegenüber in einem Projekt, das in Polen keine Aussicht auf Erfolg hatte. Die Geräte, die sie verkaufen wollten, paßten einfach nicht zum polnischen Markt. Es ist schwer den Eskimos Sonnencremes zu verkaufen. Selbst wenn sie von höchster Qualität sind.

            Überhaupt hatte sie gar nicht kommen wollen und alles getan, um die Reise jemand anderem aus ihrer Abteilung anzuhängen. Mit ihrem Mann hatte sie seit langem eine Fahrt ins Riesengebirge mit einem Abstecher nach Prag geplant. Daraus war nun nichts geworden. Auf ausdrückliche Anweisung Berlins mußte sie anreisen. Dazu noch mit dem Zug, denn damit der Aufenthalt in Berlin überhaupt einen Sinn ergab, mußte sie zuerst einen Tag in der Filiale ihrer Firma in Posen verbringen.

            Auf der Fahrt von Warschau (in letzter Zeit haßte sie Bahnfahrten) hatte sie viel Zeit gehabt, sich eine Strategie zurecht zu legen, um der Zentrale das Projekt auszureden. Doch Jean, dieser Belgier mit seinen Manschettenknöpfen, die vermutlich sogar zum Wetter paßten, hatte alle überzeugt, daß „der Markt in Polen nur noch nicht weiß, daß er diese Geräte braucht“ und er, Jean, habe „eine genial einfache Idee, wie der polnische Markt diese Wissenslücke schließen kann“. Danach sprach er eine geschlagene Stunde anhand von liebevoll vorbereiteten Farbdias über seine „genial einfache Idee“.

            Nicht genug, daß sie das Gleiche in einer Viertelstunde hätte erzählen können und dazu noch in wesentlich besserem Englisch. Auf seinen Dias entsprach außer der polnischen Landkarte nichts der Wirklichkeit. Aber das machte außer auf sie auf niemanden sonst einen besonderen Eindruck. Es war klar, daß die Direktorin aus Berlin schon vor der Präsentation ihre Entscheidung getroffen hatte. Aber auch sie hatte ihre Entscheidung schon vorher getroffen. Das Problem bestand darin, daß es zwei einander entgegengesetzte Entscheidungen waren. Aber wie hätte ihr die Direktorin auch zustimmen können? Konnte sich jemand irren, der so einnehmend gut aussah und mit einem so bezaubernden französischen Akzent sprach? Die Direktorin starrte den Belgier, der vor seinen bunten Phantasiebildern Unsinn erzählte, an wie einen Kerl, der sich gleich auszuziehen würde. Ein schwerer Fall von Menopause. Nun denn, die Versuchung war, wenn es nach der Direktorin ging, bestimmt das Geld der Aktionäre wert. Außerdem kann man immer probieren, die Eskimos davon zu überzeugen, sich auch während der langen Polarnächte zu bräunen. Durch kosmische Strahlung. Und Cremes brauchen sie dabei auf jeden Fall.

            Nach Jean war sie an der Reihe. Die Direktorin wartete nicht einmal das Ende ihres Vortrags ab. Als die Sekretärin sie ans Telefon rief, verließ die Direktorin den Raum. So erfuhren alle, daß es sich nicht lohnte, ihrem Vortrag zuzuhören. Wie auf Befehl beugten sich alle über die Tastaturen ihrer Laptops und widmeten sich dem Internet. Im Grunde genommen hätte sie Gedichte rezitieren oder auf Polnisch Witze erzählen können, die Zuhörer hätten es nicht bemerkt. Nur der Belgier baute sich vor ihr auf, nachdem sie ihren Vortrag beendet hatte, und sagte mit entwaffnendem Lächeln:

            „Sie sind die bezauberndste Ingenieurin, die ich kenne. Selbst wenn Sie nicht Recht haben, so habe ich Ihnen mit angehaltenem Atem und größter Aufmerksamkeit zugehört.“

            Als sie nach ihrer Tasche griff, um ihm ihre Berechnungen zu zeigen, fügte er hinzu:

            „Könnten Sie mich von Ihrem Standpunkt heute Abend an der Bar unseres Hotels überzeugen? Sagen wir gegen 22 Uhr?“

            Sie willigte ein, ohne zu zögern. Sie versuchte nicht einmal, die Sache durch naheliegende Notlügen der Art, daß sie am Abend beschäftigt sei, zu verkomplizieren. Alles Offizielle, was man abends hätte tun können, hatte bereits stattgefunden. Ihr Zug nach Warschau ging erst am nächsten Tag gegen Mittag. Außerdem wollte sie wenigstens einmal ohne diese Berliner Direktorin mit dem Belgier sein.

            Jetzt in der Hotelbar freute es sie, daß sie sich am Vormittag nicht allzu hitzig gegen das Projekt ausgesprochen hatte. Der Belgier war wirklich bezaubernd. Anscheinend war er oft in diesem Hotel. Mit dem Barmann sprach er Französisch, und es sah aus, als wären sie miteinander befreundet.

            Nachdem das Projekt nun um ein weiteres Jahr verlängert worden war, würde sie ihn noch viel häufiger treffen. „Er gefällt mir“, dachte sie, als sie ihn betrachtete, während er den nächsten Drink bestellte. Als der Barmann ihnen die Gläser reichte, in denen eine Flüssigkeit von ganz außergewöhnlichen Pastellfarben und exotischen französischen Namen schimmerte, näherte der Belgier ihr sein Gesicht.

            „Seit langem habe ich den Sonntag nicht in Gesellschaft von jemand so bezauberndem begonnen. Mitternacht ist gerade vorüber. Heute ist der 30. April“, sagte er, stieß mit seinem Glas leicht gegen ihre Hand und berührte mit seinem Mund zart ihr Haar.

            Das war elektrisierend. Seit langem hatte sie keine solche Neugier mehr darauf verspürt, was nun weiter geschehen würde. Sollte sie ihm erlauben, ihr Haar zwischen seine Lippen zu nehmen? Hatte sie ein Recht darauf, diese Neugier zu verspüren? Was wünschte sie sich eigentlich, daß weiter geschehen sollte? Sie, die Ehefrau eines gutaussehenden Mannes, um den sie alle ihre Freundinnen beneideten. Wie weit konnte sie gehen, um etwas mehr, als nur den längst vergessenen Schauder zu spüren, wenn der Mann wieder ihre Haare küssen und dabei die Augen schließen sollte? Ihr Mann küßte ihre Haare schon längst nicht mehr und war so... so schrecklich vorhersehbar.

            In letzter Zeit hatte sie oft darüber nachgedacht und es hatte sie beunruhigt. Nicht, daß alles nur noch Routine war. So war es  auch wieder nicht. Aber dieser besondere Reiz war weg, hatte sich irgendwo in der Alltäglichkeit verflüchtigt. Alles war erkaltet. Nur manchmal und für einen Augenblick ließ es sich wieder aufwärmen. In der ersten Nacht, wenn sie oder er von einer langen Reise heimkam, nach Streit und Tränen, die sie im Bett zu Ende bringen wollten, wenn sie Alkohol getrunken oder einen guten Joint auf einem Fest geraucht hatten, im Urlaub in fremden Betten, auf fremden Fußböden, in fremden Wänden oder fremden Autos.

            Das war noch da; oder sagen wir: Das kam hin und wieder vor. Aber es lief ohne diese Wildheit ab, diese mysthische Tantra des Anfangs. Diese Unersättlichkeit. Diesen Hunger, der bewirkte, daß schon allein beim Gedanke daran, das Blut zu rauschen begann und wie verrückt nach unten floß und sich dann unweigerlich diese Feuchtigkeit einstellte. Nein! Das gab es längst nicht mehr. Weder nach einem Glas Wein oder einem Joint, noch auf einem Parkplatz an der Autobahn, auf dem sie angehalten hatten, als sie einmal nachts auf der Heimfahrt von einer Fete waren, und sie ihren Kopf unter seine Arme geschoben und ihm die Hose aufgeknöpft hatte. Dabei kümmerte es sie überhaupt nicht, daß sie wahnsinnig schnell fuhren – bestimmt war die Musik im Radio Schuld daran gewesen, daß sie plötzlich Lust bekommen hatte.

            Wahrscheinlich machte das die ständige Verfügbarkeit. Alles war mühelos erreichbar. Man mußte sich nicht weiter anstrengen. Man kannte jedes Härchen, jeden nur möglichen Geruch, jeden nur möglichen Geschmack der Haut, ob trocken oder feucht. Man kannte alle Körpterritzen, hatte jedes Stöhnen gehört, kannte alle Reaktionen im voraus und hatte längst allen Bekenntnissen geglaubt. Manche wurden von Zeit zu Zeit wiederholt, machten aber keinen Eindruck mehr. Sie gehörten einfach zum Drehbuch.

            In letzter Zeit hatte sie den Eindruck, daß der Sex, den ihr Mann mit ihr hatte, den Charakter einer... (wie konnte sie überhaupt so etwas denken?!) katholischen Messe hatte: Einfach hingehen, nicht weiter darüber nachdenken und wieder hat man für eine Woche Ruhe.

            Vielleicht war es bei allen so? Kann man sich unbändig begehren, wenn man sich seit zig Jahren kennt und gesehen hat, wenn der andere schreit, kotzt, schnarcht, pinkelt und eine dreckige Kloschüssel hinterläßt?

            Aber vielleicht ist das gar nicht so wichtig? Vielleicht braucht man das nur zu Anfang? Vielleicht ist das Wichtigste nicht, mit jemanden ins Bett gehen zu wollen, sondern mit ihm am nächsten Morgen aufstehen und sich gegenseitig Tee machen zu wollen?

            „Hab ich etwas falsch gemacht?“ Jean riß sie aus ihren Gedanken.

            „Das weiß ich noch nicht“, antwortete sie mit einem gekünstelten Lächeln. „Ich entschuldige mich für einen Moment. Bin gleich zurück.“

            Auf der Toilette holte sie ihr Schminkzeug aus der Tasche. Als sie in den Spiegel sah, sagte sie zu sich:

            „Du hast morgen einen weiten Weg vor dir.“

            Sie begann sich die Lippen zu malen.

            „Und einen Mann hast du auch“, fügte sie hinzu und drohte ihrem Spiegelbild mit dem Finger.

            Sie verließ die Toilette. Als sie an der Rezeption vorbeikam, hörte sie, wie ein Mann, der mit dem Rücken zu ihr stand, der Dame am Empfang seinen Namen buchstabierte:

            „J-a-k-u-b...“

            Sie spürte schon keine Neugier mehr nach dem, „was weiter geschehen“ würde. Sie sehnte sich nach ihrem Mann. Sie ging zu dem Mann, der an der Bar auf sie wartete, stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf die Wange.

            „Sie haben nichts falsch gemacht. Im Gegenteil.“

            Sie nahm eine Visitenkarte aus ihrer Tasche, die unbeschriebene Rückseite drückte sie heftig gegen ihre frisch bemalten, glänzenden Lippen. Dann legte sie die Karte neben ihr Glas, dessen pastellfarbene Flüssigkeit sie noch nicht ausgetrunken hatte.

„Gute Nacht“, sagte sie leise.

 

ER: Der Taxifahrer, der vor dem menschenleeren Bahnhof Berlin Lichtenberg vorfuhr, war ein Pole. Über 30 Prozent der Taxifahrer in Berlin sind Polen.

            „Bringen Sie mich bitte in ein Hotel, in dem es eine Bar gibt, das nahe am Bahnhof Zoo liegt und viel kostet.“

            „Das ist nicht schwer“, lachte der Taxifahrer.

            Er meldete sich in dem Hotel an. Bevor er vom Empfang wegging, fragte er:

            „Wären Sie so freundlich, mich anderthalb Stunden vor Abfahrt des ersten Zugs von Bahnhof Zoo nach Warschau zu wecken?“

            Der junge Mann am Empfang sah von irgendwelchen Papieren auf und starrte ihn an, ohne etwas zu begreifen.

            „Wie denn... Anderthalb Stunden? Vor welchem Zug? Ich meine, um wieviel Uhr?“

            Ruhig gab der Gast zur Antwort:

            „Sehen Sie, das weiß ich auch nicht. Aber Ihr schreibt so rührend in Eurer Reklame“ – und dabei zeigte er auf einen Farbprospekt neben seinem Paß –, „Mercure ist nicht nur ein sicheres Dach über dem Kopf auf der Reise. Mercure ist die Reise. Rufen Sie also bitte den Bahnhof an, fragen Sie, um wieviel Uhr der Zug nach Warschau fährt und wecken Sie mich genau neunzig Minuten vor Abfahrt. Außerdem wäre ich dankbar, wenn Sie mir dann ein Taxi bestellten. Ich möchte eine Stunde vor Abfahrt des Zuges an den Bahnhof fahren.“

„Ja, selbstverständlich...“, antwortete der junge Mann verwirrt.

„Erlauben Sie, daß ich jetzt noch nicht auf mein Zimmer gehe und mein Gepäck hier lasse. Ich möchte jetzt viel Geld in der Bar Ihres Hotels ausgeben. Sie achten doch bitte darauf, daß mein Gepäck hier solange sicher ist, ja?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, legte er die Ledertasche mit dem Laptop auf den Koffer und ging zu der Tür, hinter der Musik zu hören war.

Aus den kugeligen Lautsprechern an der Decke des lärmigen Saals ertönte leise Musik. Natalie Cole sang über die Liebe. Er sah sich um. Nur einer der hohen Hocker an der eliptischen Bar war frei. Als er ihn erreichte und das halbvolle Glas sah, war er enttäuscht. Schon wollte er wieder gehen, weil er meinte, der Platz sei besetzt, da drehte sich der junge Mann auf dem Hocker daneben um und sagte auf Englisch:

„Der Platz ist leider frei geworden. Sie können sich setzen, wenn Sie wollen.“ Grinsend schaute ihn der junge Mann an und fügte hinzu: „Es ist ein guter Platz. Der Barmann kommt oft vorbei.“

Er setzte sich und spürte sofort den Duft eines delikaten Parfums. Lancôme? Biagiotti? Er schloß die Augen. Wohl doch Biagiotti.

Parfums faszinierten ihn schon lange. Sie sind wie Nachrichten, die man hinterläßt. Man braucht dazu keine Sprache. Man kann taubstumm sein, aus einer anderen Zivilisation kommen, und doch wird die Nachricht verstanden. Parfums haben etwas Irrationales, Geheimnisvolles. Channel No 5, L´Air du Temps oder Poème sind wie Gedichte, die man auf sich trägt. Manche sind geradezu unerhört sexy. Sie zwingen einen, sich umzusehen, sogar der Frau nachzugehen, die sie benutzt. Er erinnerte sich, wie er vor zwei Jahren im Prado war. Eine Frau mit schwarzem Hut ging an ihm vorbei und ein mystischer Duft umfing ihn. Er vergaß El Greco, Goja und die anderen. Er folgte der Frau. Jetzt dachte er, daß er der Frau, die hier vor einer Weile gesessen und ihren Duft zurückgelassen hatte, ebenfalls gerne folgen würde.

Er beugte sich vor und stützte seine Ellbogen auf die Theke, um den Barmann auf sich aufmerksam zu machen, der hier angeblich oft vorbeikam. Da bemerkte er die Visitenkarte neben dem Glas. Der Umriß der Lippen zeichnete sich deutlich auf dem weißen Karton ab. Die volle Unterlippe, der Bogen der Oberlippe stark ausgeprägt. Ein wunderschöner Mund. Natalia hatte so einen gehabt. Er hob die Visitenkarte an die Nase. Ganz bestimmt Biagiotti! Sie mußte zu der Frau gehören, die hier vor ein paar Minuten gesessen hatte. Er wollte nachschauen, wem sie gehörte, doch als er die Karte umdrehen wollte, hörte er:

„Entschuldigen Sie, aber die Visitenkarte ist für mich gedacht.“

„Aber gewiß doch. Gerade wollte ich Sie danach fragen“, log er und reichte dem jungen Mann die Karte.

Er war zu spät gekommen. Er würde nie erfahren, wem sie gehörte. Sein Nachbar nahm die Karte und steckte sie sich in die Jackettasche. Er ließ ein Trinkgeld für den Barmann auf dem Teller seiner Kaffeetasse und verließ wortlos die Bar.

„Eine Flasche gut gekühlten Prosecco. Und eine Zigarre. Die teuerste, die Sie haben“, sagte er zum Barmann, der gerade vor ihm auftauchte.

So einen Mund hatte auch seine Mutter gehabt. Aber alles an Mutter war wunderschön gewesen.

Der vergangene Tag und die paar Stunden jetzt gehörten in gewissem Sinne seiner Mutter. Und nicht etwa deshalb, weil er an seinem Geburtstag daran dachte, wie sie ihn geboren hatte.

Er war gestern früh nur deshalb aus Seattle nach Berlin geflogen, um endlich zu sehen, wo seine Mutter zur Welt gekommen war. Ihre Biographie interessierte ihn in letzter Zeit wie ein Roman, in dem er in ein paar wichtigen Kapiteln mitspielte. Er wollte unbedingt die ersten kennenlernen.

Sie war in der Nähe des Bahnhofs Berlin Lichtenberg zur Welt gekommen, in einem Krankenhaus, das von Samaritern geleitet wurde. Großvater hatte seine Frau, die schon keine Kraft mehr hatte, in der Hoffnung nach Berlin gebracht, daß es ihnen hier besser gehen würde. Wie nannte man das heute? Wirtschaftsemigration. Ja, genau. Eine Woche nachdem sie in Berlin angekommen war, brachte Großmutter seine Mutter zur Welt. In dem Samariterkrankenhaus. Nur dorthin brachte man Gebärende direkt von der Straße. Die ohne Geld. Gestern war er in dem Gebäude gewesen. Jetzt war dort ein türkisches Experimentiertheater.

Drei Monate später waren sie nach Polen zurückgekehrt. Sie hatten in Deutschland nicht leben können. Aber es machte nichts, daß es nur drei Monate waren. In der Geburtsurkunde blieb für immer der historische Eintrag: Geburtsort – Berlin. Auf diese einfache Art war seine Mutter Deutsche geworden. Deshalb hatte er jetzt einen deutschen Paß und konnte ohne Visum nach Seattle fliegen. Aber trotzdem flog er immer mit zwei Pässen. Einmal hatte er den polnischen vergessen und sich wie ein Staatenloser gefühlt.

Er konnte nur Pole sein.

Der Kellner brachte ihm eine blaue Flasche Prosecco, ein silbernes Röhrchen mit einer kubanischen Zigarre und einen Abschneider. Während der Kellner die Flasche öffnete, zündete er sich die Zigarre an und trank das erste Glas auf einen Zug aus. Die Zigarre war ausgezeichnet. Seit langem hatte er keine so gute mehr geraucht. Zuletzt in Dublin. Vor vielen Jahren.

Er konnte nicht aufhören, an den gestrigen Spaziergang durch die Vergangenheit seiner Mutter zu denken. Ihr Deutschtum war eben doch nicht nur das Samariterspital im Berlin der Vorkriegszeit und auch nicht nur der Eintrag in ihrer Geburtsurkunde. Es war komplizierter. Genau so wie ihre Biographie.

Er war an einem 30. April als drittes Kind des dritten Mannes seiner Mutter zur Welt gekommen. Am Tag des heiligen Jakub. Alle dachten, daß er deshalb Jakub hieße. Aber so war es nicht. Jakub hatte der zweite Mann seiner Mutter geheißen. Ein polnischer Künstler, der 1944 nur deshalb Deutscher wurde, weil er 12 Kilometer zu weit westlich zur Welt gekommen war und vor Stalingrad volle Schützengräben gebraucht wurden. Damals machten die wirklich echten Deutschen die weniger echten alle zu Deutschen. Gleich danach machten sie sie dann natürlich zu deutschen Soldaten. Soldaten wurden damals alle. Lahme, Geisteskranke, Schwindsüchtige. Alle konnten und sollten in jenen Tagen Soldaten sein. Mutters zweiter Mann wußte das nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, Tag und Nacht ohne Mutter zu sein. Deshalb brachte er sich vor dem Musterungstermin absichtlich zum Schwitzen und lief anschließend barfuß durch den verschneiten Park. Er hoffte, Tuberkulose zu bekommen. Und er bekam sie. Trotzdem holten sie ihn in die Gräben.

Nach dem Krieg fanden sie sich nicht wieder. Selbst ihre große Liebe half da nichts. Als Mutter ihre Sehnsucht überwunden hatte und endlich glaubte, daß der Krieg ihr den Künstler genommen hatte und es einfach so sein mußte, erschien in ihrem Leben sein, Jakubs, Vater. Ein abgemergelter, betörend gut aussehender, hundertprozentiger Pole, der Stutthof überlebt hatte. Sie mit deutscher Staatsangehörigkeit, er nach drei Jahren Lager. Vater ließ ihn, Jakub, nie spüren, daß er die Deutschen haßte. Aber er haßte sie. Es wäre interessant zu wissen, ob er Jakub verziehen hätte, daß der jetzt in Deutschland lebte?

Seine Eltern waren der beste Beweis, daß die polnisch-deutsche Abgrenzung nur auf einer Absprache der Historiker beruhte, denen es gelungen war, ganze Völker davon zu überzeugen. Genau besehen ist die ganze Geschichte eine einzige Absprache. Besonders wenn es um den gemeinsamen Betrug geht. Man hat sich darauf verständigt, gerade über diesen und keinen anderen Betrug im Schulunterricht zu reden.

 

SIE: Alle Plätze in der zweiten Klasse waren ausverkauft. Es war ein Fehler gewesen, die Platzkarte für die Rückfahrt nicht schon in Warschau zu kaufen. Die Frau am Schalter in Berlin Zoo hatte gesagt:

"Ich habe nur noch ein paar Plätze in der zweiten Klasse. Alle im Raucher. Wollen Sie einen?"

Die Aussicht, ein paar Stunden in einem verqualmten Käfig zu fahren, machte ihr Angst. Aber was hätte sie tun sollen?

Sie setzte sich auf den Fensterplatz in Fahrtrichtung. Sie war allein im Abteil. Der Zug sollte erst in einer halben Stunde fahren. Sie nahm ein Buch aus dem Koffer und die Akte mit den Papieren von dem Treffen in Berlin. Die Brille. Eine Flasche Mineralwasser. Das Handy. Den CD-Spieler, CDs, zusätzliche Batterien. Sie streifte sich die Schuhe ab und öffnete zwei Knöpfe ihres Rocks.

Das Abteil füllte sich langsam. Über den Lautsprecher wurde die Abfahrt des Zuges angesagt, und immer noch war ein Platz frei. Der Zug fuhr gerade los, als plötzlich die Abteiltür aufging. Sie hob den Kopf von ihrem Buch und ihre Augen trafen sich. Sie hielt seinem Blick stand. Er war es, der den Kopf senkte. In dem Moment sah er ein bißchen wie ein kleiner, verschüchterter Junge aus. Den Koffer brachte er auf der Ablage über den Sitzen unter. Aus einer Ledertasche nahm er einen Komputer. Er setzte sich auf den freien Platz bei der Tür. Sie hatte das Gefühl, als schaute er sie an. Sie schlüpfte in ihre Schuhe. Sie überlegte, ob er wohl sähe, daß ihr Rock aufgeknöpft war.

Nach einer Weile stand er auf. Aus der Tasche holte er eine Dose Diet Coke und drei Zeitschriften: "Spiegel", "Playboy" und "Wprost". Er legte sie sich auf den Schoß. Sie wußte nicht warum, aber es freute sie, daß er Pole war.

Er zog sein Jackett aus und krempelte die Ärmel seines dunkelgrauen Hemds hoch. Er war braungebrannt. Sein Haar war so verstrubbelt, als wäre er geradewegs aus dem Bett ins Zugabteil gekommen. Er war unrasiert. Sein Hemd stand offen. Er war nicht jung, aber jugendlich. Seit dem Augenblick, wo er gekommen war, hoffte sie, daß sich niemand eine Zigarette anzünden würde. Der Duft seines Eau de toilette erfüllte das Abteil. Sie wollte diesen Geruch so lange wie möglich riechen.

Heimlich schaute sie ihn durch ihre Brille an. Er begann zu lesen. Auch sie nahm ihre Lektüre wieder auf. Plötzlich verspürte sie Unruhe. Sie hob den Kopf. Er sah sie an. Er hatte grünliche Augen, die traurig und müde schauten. Mit den Fingern seiner rechten Hand berührte er seinen Mund und sah sie eindringlich an. Es wurde ihr eigenartig warm. Sie lächelte ihn an.

Er legte die Zeitungen beiseite und langte nach dem Komputer. Die Mitreisenden schauten ihm neugierig zu. Aus seiner Jackettasche holte er sein Handy, beugte sich vor und schloß es an einen speziellen Ausgang an der Rückseite des Komputers an. Vielleicht begriffen nicht alle im Abteil, was er jetzt vorhatten, aber sie wußte, daß er sich jetzt ins Internet einwählte.

Einen Moment lang dachte sie, es sei ziemlich angeberisch, was er hier tat und er zöge eine Show ab, aber als sie sich ihn genauer ansah, wie er aufmerksam auf den Bildschirm starrte, da dachte sie, daß... Daß es keine Angeberei und keine Show war.

Sie schob ihre Hand unter die Bluse und knöpfte sich diskret den Rock zu. Dann richtete sie ihre Haare und setzte sich auf.

 

ER: Wenn man sich in Deutschland auf jemanden verlassen konnte, dann nur auf die kroatischen Putzfrauen.

Natürlich hatte ihn niemand neunzig Minuten vor Abfahrt des Zuges nach Warschau geweckt. Es war nicht einmal jemand da, dem er hätte sagen können, daß dies in einem Hotel für 300 Dollar pro Nacht ein absoluter Skandal war. Der Mann von der Nachtschicht war längst weg, und die Blondine, die nach ihm Dienst tat, sah nicht so aus, als wüßte sie, wo Warschau liegt.

Die Putzfrau hatte ihn geweckt, als sie zu ihm ins Zimmer kam, weil sie dachte, es wäre leer. Dabei schlief er noch. Er wußte nicht, um wieviel Uhr der Zug nach Warschau ging, aber als er sah, daß es fünf vor elf war, ahnte er, daß er nicht viel Zeit hatte.

Ohne darauf zu achten, daß die Putzfrau noch immer da stand, sprang er nackt aus dem Bett und schrie: „O kurwa maæ!“ Dann fing er an, sich in Windeseile anzuziehen. Da die Putzfrau aus Kroatien kam, verstand sie o kurwa maæ sofort, und als er alles, wie es kam, von der Ablage im Bad in seinen Kosmetikbeutel warf, packte sie alles in seinen Koffer, was auf dem Nachttisch und beim Fernseher lag. Ein paar Minuten später rannte er aus dem Zimmer. Unwillkürlich lief er zur Rezeption, doch zum Glück war der Mann von der Nachtschicht nicht mehr da. Als er merkte, daß die Blondine von nichts wußte, zahlte er nicht einmal. Sie hatten die Nummer seiner Kreditkarte. Außerdem konnte er im Zug ins Internet und bezahlen.

Vor dem Hotel stand eine Schlange mit Taxen. Der Fahrer begriff sofort, zehn Minuten später waren sie am Bahnhof. Er kaufte keine Fahrkarte, sondern lief auf den Bahnsteig und stieg in den Waggon direkt gegenüber dem Ausgang der Unterführung. Er hatte es geschafft. Der Zug fuhr an. Er öffnete die Tür zum erstbesten Abteil.

Sie saß am Fenster. Mit einem Buch auf dem Schoß. Ihre Lippen waren wie die auf der Visitenkarte in der Bar. Ihre Haare waren hochgesteckt. Sie war wunderschön.

Er setzte sich auf den einzigen freien Platz. Natürlich hatte er keine Platzreservierung. Egal. Er würde dieses Problem lösen, wenn der Schaffner käme. Nach der Information an der Abteiltür war der Platz sowieso erst ab Frankfurt/Oder reserviert.

Er nahm die Zeitungen heraus. Am Hotelkiosk hatte es auch polnische Zeitungen gegeben! Nicht nur französische, amerikanische, englische und italienische. Die „Wyborcza“ an einem Hotelkiosk im Zentrum von Berlin neben dem „Paris Soir“ ist tausend Mal wichtiger als alle Erklärungen zu „Polens Bereitschaft, der EU beizutreten“.

Plötzlich konnte er der Versuchung nicht widerstehen. Er blickte auf und sah sie an. Außer dem Lippenstift trug sie keine Schminke. Sie las, wobei ihre Finger all Augenblick ihre Ohren berührten. Ihre Hände waren faszinierend. Wenn sie die Seiten ihres Buchs umblätterte, schien es ihm, als streichelte ihre langen Fingern sie.

Sie hob den Kopf und lächelte ihn an. Diesmal schämte er sich nicht und lächtelte zurück.

Er hatte keine Lust mehr zu lesen. Er verband das Telefon mit dem Komputer und startete sein E-Mail-Programm. Langsam spulte er die Zugangsroutine ab. Das Modem im Handy ist wohl das langsamste Modem, das es gibt. Oft dachte er darüber nach, warum das so ist. Er würde sich darum kümmern, sobald er zurück in München wäre.

In dem Briefkasten seines Münchner Instituts war nur eine E-Mail. In der Adresse war die Domäne einer englischen Bank.

Wieder eine Reklame, dachte er.

Er wollte sie schon löschen, als er den ersten Teil der Adresse bemerkte: Jennifer@. In seiner Erinnerung klang dieser Name wie Musik. Er entschloß sich, die Mail zu lesen.

 

Aus dem Polnischen von Albrecht Lempp