© Janusz Leon Wiśniewski

 

Aus dem Polnischen von  © Maria Keil   ( www.mariakeil.de )

 

 

Wiederholung des Schicksals             (Fragmente)

 

„Die Marcinowa hat schon immer alles etwas verquer gemacht. Sogar noch nach ihrem Tod.“

Die Alte mit dem bestickten Kopftuch lachte lauthals und griff nach dem Schnapsglas.

Sie trank aus und stellte das Glas vor ihre Teller auf den Tisch, damit alle merkten, dass es leer ist. Kurz darauf wandte sie sich an Marcin. Er saß ihr an dem großen ovalen Holztisch gegenüber.

„Gießt du mir noch einen ein? Mir ist nämlich so traurig.“

Er stand sofort von seinem Platz auf, mit der Flasche Wodka in der einen und dem eigenen Glas in der anderen Hand.

„Na klar, Frau Siekierkowa, ich gieße nach.“

Er goss der Alten ein und sich selbst, er gab ihr dann das Glas in die Hand. Nachdenklich schaute sie ihn an und sagte: „Ganz allein bleibst du jetzt Marcinek, so allein wie dieser Daumen.“

Alte Siekierkowa …

Niemand nannte sie anders. Manchmal stellte sie sich selbst so vor. Einige Leute aus dem Dorf glaubten sogar, dass „die alte Siekierkowa schon alt war als sie geboren wurde, und dass sie gleich nach der Geburt anfing zu rauchen.“ Das war natürlich dummes Geschwätz der besoffenen Bergbauern in der Kneipe. Keiner wusste, wann und wo die Siekierkowa geboren wurde. Die einen meinten in Krakau, andere in Vilnius und noch andere, dass sie in Sibirien geboren wurde. Aber sicher wusste das niemand. Genauso mit den Zigaretten. Die Siekierkowa war einfach schon immer in Biczyce[1] und rauchte auch schon immer. Sie wohnte in einer alten Hütte auf der Anhöhe vor dem Wald, wo sie letztes Jahr den Mast für die Parabol- Antennen aufgestellt hatten, weswegen man jetzt in Biczyce Handyempfang hat. In der Kneipe erzählen die Männer, dass die Siekierkowa kein bisschen protestiert hat gegen diese Telefonstange auf ihrem Hof. Eines Sommertages fuhr ein elegantes Auto aus Krakau vor ihre Hütte und einen Monat später stellten sie den Mast auf. Die Siekierkowa hat angeblich nur gefragt, ob ihr das Wasser im Brunnen nicht sauer wird von diesen Telefonen“. Als der junge Mann in Anzug und Krawatte, welcher aus diesem Auto gestiegen war, ihr jedoch erklärte, dass „dem Wasser in Ihrem Brunnen auf gar keinen Fall irgendetwas geschieht“ und als Zugabe ein neuer Zaun aufgestellt und der Weg zu ihrem Grundstück asphaltiert würde, willigte sie ohne zu zögern ein. In der Kneipe unterhalb der Kirche erzählten sie sich aber, dass die alte Siekierkowa denen vom Telefon den halben Hof verkauft hat für zwei Kartons „Populär“[2]. Aber eigentlich ging es ihr hauptsächlich um den Asphalt, weil sie im Frühlingstauwetter sogar zur Toilette auf den Hof in Gummistiefeln laufen muss. Seitdem hat die Siekierkowa als Einzige im Dorf einen weiß gemalerten Brunnen, einen neuen Drahtzaun ums Grundstück und einen asphaltierten Weg, der über ihren Hof zum Mast führt. Und Dank der Siekierkowa hat das Dorf GSM (polnisches Funk- Telefonnetz). Wenn man vom Ufer des Dunajec zur Hütte der Siekierkowa blickt, hat man den Eindruck, dass dieser Mast zwischen zwei großen Eichen steht, die mit ihren weitausgebreiteten Baumkronen die Horizontlinie der Tatra berühren. Manche meinen, dass in Biczyce als erstes die Eichen waren und sich gleich darauf die Siekierkowa dort einstellte. Und so wird es immer sein. Wenn die Siekierkowa plötzlich aus irgendeinem Grund verschwinden würde, wäre das genauso als würde jemand die Tatra an einen anderen Platz tragen.

Die Siekierkowa kannte Marcin „von Anfang an“. Das heißt von dem Moment an, als sie das Neugeborene, der vierten Tochter von der Janasowa, in der großen Schüssel mit abgekochtem Wasser abwusch. Die Siekierkowa begleitete fast alle Geburten in Biczyce. Irgendwann wird man in Biczyce geboren und stirbt in Biczyce aber ins Krankenhaus nach Sacz fuhr man nur wegen Bilddarmentzündung oder wenn gegen die Schwindsucht auch kein Einreiben mit Lammschmalz mehr half und man länger als eine Woche Blut spuckte. Obwohl sich schon viel geändert hatte seit damals, so blieb das doch so wie früher. Die Leute denken, dass sie beim Arzt erfahren könnten, dass sie vielleicht  Krebs haben, wenn sie aber gar nicht erst hingehen, würde es schon irgendwie werden.

Später, noch vor dem Krieg, sang die Siekierkowa das „Ave Maria“ im Kirchenchor zur Hochzeit der Marcinowa. In derselben Kirche ist sie auch zur Taufe ihrer sechs Söhne gewesen. Einer von ihnen starb wenige Stunden danach. Maciej. Der letzte vor Marcin. Marcin war der Jüngste. Als er geboren wurde, weinte die Marcinowa. Aber ganz und gar nicht darüber, dass sie ein kleines, hässliches mit gelber Haut überzogenes Skelett an einem großen, kahlen, faltigen Kopf hängend auf die Welt gebracht hatte. Sie weinte hauptsächlich deswegen, weil sie schon wieder einen Jungen geboren hatte. Schließlich hatte sie während der ganzen Schwangerschaft gespendet, den Rosenkranz gebetet, und versteckt vor ihrem Mann hielt sie ein Bildchen der Mutter Gottes unter dem Kopfkissen. Damit es nur eine Tochter würde.

Keiner weiß seit wann, aber alle aus dem Dorf nannten die Verstorbene „Marcinowa“.

Nicht wie andere alte Frauen nach ihren Männern, sondern nach ihrem Sohn. Und der war der Jüngste von den Fünfen. Sogar der Pfarrer, der den Sarg verschloss, sagte auf den Knien im Schlafzimmer der Hütte, in welcher sie schon vor dem Krieg wohnte, „Lebe wohl, Marcinowa!“. Nur wenige erinnerten sich noch, dass sie in Wirklichkeit Cecilia hieß.

Die Söhne trugen den Sarg zum Auto vor dem Tor, sie standen an der Spitze des Trauerzuges und bewegten sich hinauf zur kleinen Kirche mit Friedhof. Bei schönem Wetter konnte man vom Friedhof aus die Berge sehen. Als die Mutter noch laufen konnte nahm sie die Jungen nach der Messe mit auf den Friedhof und zeigte ihnen die Berge. Von diesem Platz aus am Kreuz, gleich neben den Kindergräbern, sahen die Berge am schönsten aus.

In der Nacht vor dem Begräbnis fiel frischer Schnee. Es war sehr glatt. Die Wege zur Kirche wurden nie geräumt, weil Biczyce zu weit weg liegt von Nowy Sacz, „als dass es sich auszahlen würde, zu streuen“, soweit die Auskunft aus dem Rathaus in Nowy Sacz. Nach der Kurve, am Kriegerdenkmal, wo die Steigung am größten war, schlitterte das Auto mit dem Sarg plötzlich nach unten. Der Fahrer gab Gas und das Auto stand quer auf der Straße. Die Männer des Trauerzuges legten die Kränze, Blumen und Bänder auf die verschneite Straße und warfen sich gegen das Auto. Zuerst stellten sie es gerade in Fahrtrichtung und schoben es dann den Berg hoch. Die Steigung verringerte sich und das Auto fuhr mit dem Sarg langsam den Berg hinauf. Eben diesen Vorfall hatte die alte Siekierkowa im Sinn als sie sagte, dass die „Marcinowa sogar nach dem Tod noch alles verquer macht“.

Das erste Mal verstand Marcin wirklich, dass er allein zurück blieb, als die Totengräber schon das Grab mit gelb- dreckigem Sand zugeschüttet hatten und eine Emaille- Tafel anschlugen mit Kreuz und Vornamen, den schon seit Jahren keiner mehr benutzte und  das Datum ihres Todes, den 16. Dezember.

Der Sechzehnte, Mittwoch, vor drei Tagen. Wie immer stand er früh auf, er nahm die Butter aus dem Kühlschrank, damit sie ein bisschen weich würde, und ging in den Keller, um etwas Holz und Kohlen zum Anzünden des Feuers zu holen. Als alles für das Frühstück vorbereitet war, ging er mit dem hölzernen Tablett ins Schlafzimmer, zur Mutter. Wie jeden Morgen. Seit acht Jahren. Seit acht Jahren aßen sie gemeinsam Frühstück und danach kämmte er ihr die Haare.

An diesem Tag fand er sie tot auf.

 

                                                           *

 

Vor acht Jahren hatte sie Hirnblutungen. Sie ging säen aufs Feld vor ihrem Haus. Das Feld ist auf dem Banach. So nannten sie den Hang unter dem Wald. Von diesem Platz aus gibt es einen wundervollen Ausblick auf die Berge. Die Siekierkowa behauptet bis heute, das Gott, als er die Tatra schuf, eben genau hier auf  dem Banach saß und „sie ihm deswegen so gut gelungen ist“. Niemals vergisst er das, er hat das Bild eingeprägt im Gehirn noch aus der Kindheit- die Mutter geht langsam zwischen den Furchen ihres kleinen Feldes und sät. Mit dem Kopftuch in der Stirn, hinten am Kopf zusammengebunden, einen Eimer Getreide am Ellenbogen hängend und im abgetragenen karierten Kleid mit einer Schürze ohne Ärmel, welche sie jeden Abend wusch. „Aufs Feld geht man, um neues Leben zu säen, Söhnchen“, pflegte sie zu sagen, „und ein neues Leben muss man in Reinheit beginnen“.

Sie ging auf das Feld  und bevor sie nach der ersten Handvoll Körner griff, bekreuzigte sie sich wie vor dem Gebet. Danach erst begann sie zu säen. Sie verstreute dieses Getreide mit solchem Stolz, feierlich, würdevoll. Manchmal hielt sie inne, stand mit den Eimern zwischen den Furchen und schaute auf die Berge. Schon als kleiner Junge, vor dem Haus stehend, gewöhnte er sich an diesen Anblick.

Dieses einen Tages, vor acht Jahren, war es ihm nicht gegeben auf die Berge zu schauen, das Schicksal wollte es anders. Sie riefen ihn nach Piwniczna. Er ging ohne sich zu verabschieden und fuhr weg. Er kam nachmittags so gegen sechzehn Uhr zurück. Die Mutter lag auf dem Feld mit dem Gesicht im ausgeschütteten Getreide. Die Ärzte sagten, dass man bei einem Schlaganfall „in jedem Fall sofort ins Krankenhaus muss, wenn auch mit dem Traktor oder zu Pferde“. Aber er war schließlich nicht da an diesem Tag, weil sich diese idiotische Havarie des Transformators in Piwniczna ereignete.

„Und andere Kinder hat die Mutter wohl nicht“ fragte anmaßend die dicke Krankenschwester.

„Hat sie“ antwortete er leise. „Aber alle sind aus Polen weggezogen.“

 

                                                         *

 

Nur der älteste Sohn der Marcinowa, Piotr, wohnte in der Nähe von Biczyce, in Nowy Sacz. Er arbeitete als Briefträger. Seit dem er weggezogen war, fuhr er nur selten zur Mutter. Öfter kam dessen Sohn, Simon. Aber nicht, um die Großmutter zu besuchen, sondern von seinem Onkel Marcin das Motorrad auszuleihen und die Mädchen von der Kneipe zum Mast auf dem Hof der Siekierkowa zu fahren. Die restlichen Brüder verteilten sich über Polen. Manchmal kamen von ihnen Briefe, Karten mit Grüßen aus dem Urlaub oder Festtagsgrüßen. Nach Biczyce kamen sie nur auf der Durchreise nach Zakopane zum Ski fahren, oder- wenn sie die Zeit dazu fanden- um an Erstkommunionen oder Hochzeiten der Kinder ihrer Freunde aus der Kindheit teilzunehmen. Zuletzt auch zum Begräbnis dieser Freunde. Adam, der anfing, aber nie sein Landwirtschaftsstudium in Olsztyn beendete und der die Landwirtschaft seiner Eltern übernehmen sollte, kam von allen am seltensten nach Biczyce. Er wohnte erst in Wroclaw und seit ein paar Jahren in Lodz. Während des Studiums verheiratete er sich mit einem Mädchen aus Wroclaw, gleich danach wanderte er über Österreich nach Kanada aus und man hörte nichts mehr von ihm. Die Marcinowa fuhr zur Schwiegertochter nach Wroclaw und beruhigte sie- „Adasch[3] ist doch schließlich ein guter Junge, sicher kommt er zurück.“ Er kam zurück. Nach vier Jahren. Mit einer neuen Frau und ihrem Kind. Nach der Trennung zogen sie nach Lodz, wo er zuerst einen Laden für exklusiven Schmuck auf der Pietrowska Straße eröffnete, und später zwei Firmen für Schutzdienste. Er beschäftigte vor allem ehemalige Militärs und Usbeken, welche sich in der neuen polizeilichen Wirklichkeit nicht zurecht fanden, oder solche die negativ verifiziert waren.

Blazej, fünf Jahre älter als Adam, konnte ihn nicht leiden und selbst während der kurzen Besuche bei der Mutter in Biczyce- obwohl er wusste, dass er ihr damit Kummer macht- konnte er es nicht verbergen. Fleißig, ambitioniert und manchmal bis zur Absonderlichkeit ehrlich, verachtete er sämtliche Durchtriebenheit und Trickserei. Adam betrachtete er als Jemanden, der für Geld alle seine Ideale wegwerfen würde- wenn er überhaupt welche hatte- aber mit Sicherheit würde er nicht davor zurückschrecken, die eigene Familie zu verkaufen. Manchmal, meistens von Adam provoziert,  platzte aus ihm die ganze Verachtung, die er gegen Adam hegte. Kein Bitten und keine Weinen der Mutter hielten ihn davon ab. Adam verteidigte sich, indem er behauptete, dass Blazej krankhaft eifersüchtig auf seinen Reichtum sei. Seine neuen Autos, die neuen Häuser auf Hel, in den Mazuren, und sogar seinen Sonnenbrand aus dem Urlaub. Und dass er selber, „dieser betitelte, wahnsinnig wichtige Professor von der Universität“ mit seiner Familie im Plattenbau in einem stinkenden Käfig am Rand von Gdansk lebt. Aus diesem Neid und Lebensgefühl baue er seine Philosophie, welche ihn, „den ernsten, ehrlichen, nicht nur in Lodz, sondern auch in Warschau geschätzten Geschäftsmann“, unter einen Hut stecke mit der Mafia und dunklen Interessen.

Das war natürlich nicht wahr, Blazej war in Wahrheit nur auf solche Leute neidisch, die mehr Bücher haben als er und mehr Zeit sie zu lesen.

„Also, dich beneide ich um nichts, weil du im Leben mehr Autos hattest als du Bücher gelesen hast. Und wenn du jetzt überhaupt irgendetwas liest, dann SMS oder die Tatoos auf den Rücken der jungen Mädchen, die du am Wochenende mit auf eine deiner Datschen nach Hel oder die Mazuren ziehst. Ich spreche dir nicht das Recht ab, dich zu meinem Thema mit einer eigenen Meinung zu äußern, aber dieses Eingeständnis solltest du nicht durcheinander bringen mit der Erlaubnis in Gesellschaft stinkende Furze abzugeben. Aber wenn wir nun schon einmal dabei sind, so… also für Geld würdest du sogar deine eigene Scheiße essen.“ Er beendete die Diskussion mit seinem Bruder.

Gleich darauf ging er, ohne sich zu verabschieden, knallte mit den Türen, dass die ganze Hütte wackelte, setzte sich in seinen alten, desolaten Skoda und einmal quer durch Polen fuhr er mit Frau und Tochter zurück nach Gdansk. Am nächsten Tag rief er an und entschuldigte sich bei der Mutter, dass er sich nur unnötig aufgeregt hätte und ihm das niemals wieder passieren sollte.

Aber  dieses „niemals“ dauerte nur bis zur nächsten Begegnung. Es half nicht einmal, dass Stanislaw, der ruhigste Sohn der Marcinowa, jedes Mal bat und jeden einzeln, Adam und Blazej, versprechen ließ, den Streit im Hause der Mutter beizulegen und in diesen paar Stunden „nicht ständig wiederholten, was sowieso alle schon auswendig kannten“. Stanislaw kam nach Biczyce mit drei Töchtern und seiner Frau, welche für „die Oma Marcinowa und Marcinek“ einen ganzen Kofferraum mit Gebackenem und kiloweise geräuchertem Aal von den Fischern aus Gizyck mitbrachte. Stasieniek[4], wie ihn Mutter nannte, war darüber so stolz, als wenn er selber die Aale eigenhändig gefangen hätte oder den Mohn-, Käse- und Hefekuchen gebacken hätte.

Stasiek, der Stattlichste aller fünf Söhne, Absolvent der Offiziersschule in Torun, im Alltagsleben Offizier und Truppenführer in der Militäreinheit Gizyck, kam zu Mutter und Bruder nach Biczyc immer für ein paar Tage. Stasiek hatte so eine Biografie wie er immer haben wollte. Eine Seite in einem kleinen Schreibheft würde genügen, sie zu erzählen. Eine Biografie über die sich nicht die kleinste interessante Novelle schreiben ließe, geschweige denn einen Roman. Das sind meistens die Biografien der glücklichsten Menschen. Aber wer würde letztendlich ein Buch kaufen mit einem einzigen langweiligen Aufhänger, das immerzu dasselbe erzählt: eine ruhige, ausfüllende Arbeit, eine glückliche Familie, immer die gleiche Frau, in welche der Hauptheld seit 25 Jahren verliebt ist, normale Kinder. Keine Affären, keine Untreue, keine Liebhaber und Geliebte, überhaupt keinen außerehelichen Sex, überhaupt keine Knicke und Verbiegungen…

Lächelnd, fröhlich und zufrieden betrachtete er diese Besuche wie eine Rückkehr in die Welt der schönsten Erinnerungen. Wenn sie abends das Feuer im Herd anzündeten und es nach Barschtsch und Kohl zu den Piroggen duftete, zündete sich Stasiek eine Zigarette an, setzte Frau und Töchter auf die hölzernen Schemel neben Oma Marcinowa und bat sie, etwas zu erzählen, wie das damals war, als er noch ein kleiner Junge war, man in Biczyce lebte und davon träumte, einmal ganz, ganz weit weg zu fahren. Zum Beispiel nach Nowy Sacz  auf die Kirmes. Oma Marcinowa erzählte diese Geschichten schon viele Male, die Enkel und Söhne kannten sie schon fast auswendig, aber das störte nicht, beim neugierigen Lauschen. Zum Beispiel: „Stasiek musste immer neue Schuhe kriegen, weil er so große Füße hatte und er die Schuhe von Adam nicht erben, konnte, weil sie für ihn schon zu klein geworden waren“. Und wie er sehr bedacht um diese Schuhe war. Dass er sich barfuss auf den Weg machte, die Schuhe zusammengebunden und über die Schulter geworfen, und sie erst vor dem Eintreten in die Kirche anzog. Nach der Messe zog er sie sofort wieder aus, ging barfuss nach Hause, schmierte sie mit Lederfett ein, packte sie in einen Karton und brachte sie auf den Dachboden.

 

                                                                      *

 

„Haben sie in Biczyce irgendein Telefon, falls etwas passiert?“ Gedankenversunken vernahm er die Stimme der dicken Krankenschwester. „Das heißt falls sie… Nun ja, wissen sie, man kann nie wissen… in diesem Alter…“

Mutter starb nicht. Einen Monat später kam sie mit dem Krankenwagen und ein Sanitäter begleitete die Mutter am Arm ins Schlafzimmer. Das sie aus eigener Kraft seitdem nicht mehr verließ. Die Aphasie und Probleme beim Sprechen vergingen nach einem halben Jahr, aber die Lähmung ging nicht weg. Über längere Zeit konnte sie nur den Kopf und die linke Hand bewegen.  Nach knapp zwei Jahren Rehabilitation und Übungen, erst mit einer Krankenschwester, die aus Biczyce kam und später mit ihm, konnte sie die Schwäche der rechten Hand überwinden. Ein Jahr später häkelte sie ihren ersten Topflappen…

Er wechselte die Arbeit. Vom Chef der Abteilung Versicherungen im Betrieb der Energieversorgung- er, Ingenieur von der Fachhochschule Gliwice- machte sich, Dank eines Freundes, eine Stelle als Direktor im Museum von Nowy Sacz klar. Nur mit solch einer Arbeit konnte er in Biczyce wohnen, sich um die Mutter kümmern und gleichzeitig Landwirt sein.

An all das dachte er, während er an ihrem Grab stand. Als der Pfarrer mit den Ministranten schon fortging und alle Kondolenzen abgegeben waren. Alle verabschiedeten sich leise und betraten langsam die mit frischem Schnee verschneite Straße, begleitet von seinen Brüdern zu ihrem Haus, wo das Totenmahl stattfinden sollte.  Erst ging er ihnen für einen kurzen Moment hinterher, kurz vor dem Tor zur Kirche hielt ihn jedoch etwas zurück, er ging zum Grab zurück, um noch ein Weilchen dort mit ihr zu verbringen. Zu zweit. So wie immer während der letzten acht Jahre.

Sie erschreckte ihn. Er hatte sie nicht kommen gehört. Karolina, die älteste Tochter von Stasiek. Die erste Enkelin von Oma Marcinowa. Die mit den, wie Oma sagte „riesigen Augen wie Seen“. Sie nahm ihn an die Hand, legte ihm den Kopf an die Schulter und sagte: „Onkelchen, komm irgendwann mal zu mir. Ich habe eine Wohnung in Warschau. Lass uns zum Wettrennen gehen. Schließlich hast du mir erzählt, dass du schon immer mal auf ein Pferd setzen wolltest und sehen, ob es gewinnt. Hier ist meine Visitenkarte.“ Sie drückte ihm ein Kärtchen in die Hand. „Onkelchen, ruf an, oder schreib mir eine e-mail. Und jetzt komm schon nach Hause. Die fangen da unten ohne dich nix an. Nicht mal Tee bringen sie fertig in deiner Küche. Komm. Lange genug warst du nur für die Oma da…“

Er fand ihre Hand und drückte sie fest. Er wandte den Kopf ab, damit sie seine Tränen nicht sah, wartete einen Moment ab, um sich zu beruhigen. Er antwortete leise: „Ich komme, Karolinka. Im Frühling. Ich stelle einen Gedenkstein für Oma auf und pflanze Blumen… und danach komme ich. Ich werde jetzt viel Zeit haben. Ich komme ganz sicher.“

Er warf einen Blick auf die Visitenkarte, holte sein Portemonnaie raus und steckte sie zwischen die zerknautschten Seiten seines Ausweises.

„Wir gehen gleich.“

Er ließ ihre Hand los, fiel auf die Knie, schob die Kränze auseinander und berührte einen Flecken gelben Sand vom zugeschütteten Grab. Kurz darauf gingen sie langsam auf der mit frischem Schnee bedeckten Straße. Es wurde neblig. In der Ferne zeichneten sich die Berge mit schwarzen Umrissen vom ergrauenden Himmel ab. Unten im Dorf entzündeten sie in den Häusern die ersten Lichter. Es begann der nächste Abend. Wie jeden Tag.

Die alte Siekierkowa blieb am längsten. Sie trank Wodka, rauchte, rückte ihr besticktes Kopftuch zurecht und erzählte über die Marcinowa. Darüber wie sie abends den ältesten Sohn Piotr zur Welt brachte und morgens schon wieder mit allen bei der Ernte war. Darüber wie Blazej eine Hirnhautentzündung bekam, nachdem er geimpft worden war, und die Marcinowa brachte ihn, in eine Decke eingewickelt, in der Nacht, zu Fuß über das Feld ins Spital nach Nowy Sacz.

„Die Ärzte erzählten der Marcinowa, dass Blazej höchstwahrscheinlich dumm würde davon“ sagte sie, einen tiefen Zug von der Zigarette nehmend, „und dass man sehr darauf achten sollte und ihn genau beobachten.“ Jeden Monat opferte sie während der Messe für seine Gesundheit und drei Jahre lang kam sie mit ihren Fünfen den Rosenkranz beten. Und Gott erhörte sie, „weil unser Blazejek klüger ist als all diese Ärzte und sie sogar in der Zeitung über ihn berichten“ lachte sie mit kratziger Stimme und stieß eine Wolke Zigarettenrauch aus.

Darüber wie Adam von zu Hause fortlief, als der Vater ihn beim Rauchen in der Scheune erwischte, die Marcinowa fuhr nach Krakau, um ihn zu suchen, haute einen Polizisten mit der Tasche, weil dieser „ihren kleinen Adasch“ nicht aus der Zelle freilassen wollte.

Manchmal stoppte sie die Erzählung und aus dem Fenster schauend wiederholte sie:

„Und dich Marcin gebar sie für sich, für das Alter…“

Die Reihe der Gäste ging zuerst zur Siekierkowa und dann zu Marcin, um sich zu verabschieden und zu kondolieren. Als wenn nur Marcin und die Siekierkowa heute Jemand nahestehendes zu beerdigen hatten.

Das Haus leerte sich langsam. Vom Hof fuhr ein Auto nach dem anderen ab. Von den Brüdern blieb nur Stanislaw. Als alle gegangen waren, stand er auf, gab seinen Töchtern und der Frau ein Zeichen. Sie gingen alle zusammen zu Marcin. Sie stellten sich vor ihn hin. Stanislaw rückte seine Uniform zurecht und sprach: „Marcin, hör zu … ich denke,… das heißt, wir denken… Verkauf die Hütte und komm zu uns. Jetzt wo Mama nicht mehr lebt… Du hast so viel für sie getan. Für uns ebenso. Acht Jahre lang warst du bei ihr. Wir sind immer nur zu den Ferien gekommen. Aber du… du hast sie gepflegt. Für uns alle…“

Er unterbrach sich kurz. Unterdrückte die Tränen und sprach weiter: „ zuerst wohnst du bei uns. Karolina ist in Warschau, also haben wir ein Zimmer für dich. Ich kümmere mich um eine Arbeit für dich bei uns in der Einheit. Du kaufst dir eine Wohnung. Du könntest ganz von vorn anfangen…“

Marcin, ganz überrascht, versuchte nervös von seinem Stuhl aufzustehen. Es kam ihm so ignorant vor ihnen gegenüber, jetzt zu sitzen. Der Stuhl hing fest zwischen den Tischbeinen und dem Stuhl der alten Siekierkowa. Er rückte kein bisschen. Das was sich hier abspielte, war so… so rührend. Und wichtig. Und wichtige Sachen darf man nicht im Sitzen entgegennehmen. Sodann erhob auch er sich…

 

                                                                  *

 

Es war noch lange vor der Krankheit der Mutter. Sie fuhren mit drei Autos zu einem Pferderennen. Spät abends fuhren sie in Nowy Sacz los und durch ganz Polen zogen sie den Pferdehänger, um am Morgen in Bialogory anzukommen. Das Rennen begann um zehn Uhr. Erst gegen acht Uhr erreichten sie Gdansk. Fast jedes Auto brauchte zwei Fahrer, Marcin konnte jedoch sowieso nicht schlafen während der Fahrt. Es kam ihm so vor, als wenn er allein an den Rufen der vorbeifahrenden Wagen erkennt, ob alles in Ordnung ist mit Gracia. Wenn es langsamer ginge würde er am liebsten mit im Hänger sitzen, mit dem Pferd reden, das Plaid auf seinem Rücken zurechtrücken und sich dafür entschuldigen, dass es so viele Stunden im Dunkeln in diesem Verschlag auf Rädern stehen  muss. So schlief er also die ganze Nacht nicht. Um elf Uhr sprang er ohne Umstände auf Gracia. Die Organisatoren allerdings stellten dummerweise  ein Hindernis auf. Gracia stolperte nach dem Sprung und stieß gegen die Balken der Rennbahnumzäunung. Das Schienbein seines linken Beines zerbrach wie ein Streichholz. Er ritt weiter. Erst im Stall, als seine Freunde ihn vom Sattel holen mussten, merkte er den Schmerz. Er belegte den zweiten Platz. Zur Siegerehrung fuhren sie ihn im Rollstuhl, welchen sich die Organisatoren von den Sanitätern ausliehen. Als sie zu ihm kamen mit der Urkunde und der Medaille, konnte er doch schließlich nicht sitzen. Also stemmte er sich aus diesem Sitz und stand auf seinem gesunden Bein. Die Zähne zusammenbeißend, stützte er sich vorsichtig mit dem gebrochenen Bein auf, um das Gleichgewicht zu halten. Er stand, während er die Medaille erhielt. Er setzte sich erst wieder, als die Jurymitglieder zur nächsten Siegerehrung übergingen. Gleich darauf brachten ihn seine Freunde ins Krankenhaus.

 

                                                                      *

 

Karolina rette ihn aus dieser Bedrückung. Sie legte ihm die Hände auf die Schultern, drückte ihn auf den Stuhl zurück und sagte: „Onkelchen, du musst nicht jetzt sofort von vorne anfangen. Papa wollte dir nur in unserem Namen sagen, dass es in Gizyck zwar keine Berge gibt und keinen Dunajec, aber dafür wunderschöne Seen. Und in der Umbebung einige Gestüte, du könntest also neue Pferde kennen lernen… Komm zu uns.“

Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Stirn. Marcin schaute sich unruhig um. Als Karolina ihre Hände von seinen Schultern ließ, versuchte er wieder aufzustehen. Mit dem Ausdruck der Beschämung auf dem Gesicht schaute er wie ein heranwachsender Junge, der dabei ertappt wurde wie er heimlich seine ältere Schwester im Bad durchs Schlüsselloch beobachtete.

Kurz darauf näherten sich die zwei anderen Schwestern und küssten ihn auch. Resigniert und am Ende einverstanden damit, dass er sich nicht aus der Falle befreien konnte, senkte er den Kopf und wiederholte nur: „Ich danke euch, Dankeschön…“

In diesem Moment lachte die alte Siekierkowa heiser, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. Eine Rauchwolke ausstoßend stellte sie ein Glas Wodka vor ihn hin. „Nu, Marcinek, schäm dich nicht, trink auf die jungen Damen.“

Da stand Stanislaw hinter seinem Bruder und zog kräftig seinen Stuhl nach hinten. Marcin stand sofort auf. Sie umarmten sich. Dann ging er zu Stanislaws Frau und gab ihr einen Handkuss. Dann gingen sie zusammen raus. Er stand am Tor und schaute noch lange den verschwindenden Lichtern ihres Autos nach, bevor er ins Zimmer zurück ging.

Die alte Siekierkowa saß am Tisch und betete laut den Rosenkranz. Er setzte sich ans andere Ende des Tisches, schaute sie an und hörte zu. Schnell bewegte sie die Bernsteinperlen der Kette durch ihre Finger und betete mit wehklagender Stimme, auf dem Stuhl hin und her nickend. Plötzlich hörte sie auf, griff nach dem Glas, trank aus und bekreuzigte sich. Sie öffnete die Augen und in Demut und mit religiösem Überschwang schaute sie zur Decke, sie kehrte zum Rosenkranz zurück. Sie lächelte. Das erste Mal an diesem Tag.

Das war das zweite Mal, dass er der Siekierkowa zusah und mit ihr allein war, als sie den Rosenkranz betete. Das erste Mal wird er nie vergessen…

 

                                                                *

 

Er war damals noch Student. Eines Abends im Frühling rief die Mutter ihn in der Akademie an. Das hatte sie nie gemacht. Vielleicht deswegen, weil das einzige Telefon von Biczyce im Pfarrhaus stand. Pfarrer Jamrozy erlaubte nur zu telefonieren, wenn Jemand gestorben war oder geboren wurde. Und in anderen Angelegenheiten, nur wenn man ihm in der Adventszeit einen Umschlag mit der größten Spende gab. Allein die Witwe Walczakowa durfte immer telefonieren. Ihr Mann hatte sich im Schweinestall aufgehängt als sich herausstellte, dass die kleine Anette nur die Tochter seiner Frau war. Offiziell hieß es im Dorf, dass Walczak sich aufhängte, weil er den Kredit für den Mähdrescher nicht zurückzahlen konnte. Nach dem Selbstmord von Walczak ging der Pfarrer nicht nur auf den Friedhof, um ihn zu beerdigen, er benannte auch die Kollekte einer Sonntagsmesse als Hilfe für „unser in Trauer und Schmerz versunkenes Gemeindemitglied“. Einen Monat später begann die Walczakowa im Pfarrhaus zu putzen. Zwei Jahre später gebar die inzwischen dreißigjährige Witwe eine Tochter, Theresa. Diese beiden, Theresa und Anette, gleichen einander wie zwei Tropfen Wasser. Außerdem durfte ohne besondere Gründe von diesem Telefon im Pfarrhaus auch die alte Siekierkowa, oder jemand in ihrem Namen, telefonieren, wie sich an diesem Frühlingsabend herausstellte. Ehe ihn also seine Mutter, im Namen der Siekierkowa in der Akademie anrief, bat die alte Siekierkowa den Pfarrer und die Walkaczowa ohne Skrupel aus dem Zimmer in dem sich das Telefon befand.

Er sollte sofort nach Biczyce kommen. Die Siekierkowa hatte vor ein paar Tagen einen Brief von der Britischen Botschaft in Polen bekommen, aus welchem hervorging, dass ihr Sohn gestorben war, Oberst der Royal Air Force, und seine Frau Shilla FitzPatrick- Siekierka, ihre Schwiegertochter, lädt sie „aus dieser Gelegenheit“ ins Königreich Großbritannien. Zum Brief der Botschaft war ein Flugticket beigelegt. Die Siekierkowa sagte zu seiner Mutter, dass sie, wenn schon, dann „nur mit Marcinek ins Königreich geht“.

Am nächsten Tag fuhr er nach Biczyce. Allein schon weil die Tatasache, dass die einsame Siekierkowa, zu welcher nie irgendwelche Briefe kamen, einen Sohn hatte, nur einmal in diesem Gespräch erwähnt wurde.

„Einen Sohn wollte der Taugenichts, also habe ich ihm den geboren“ sagte sie, „und als ich ihn ihm geboren hatte, da verschwand er aus dem Dorf und hat sich bis heute nicht gemeldet. Mit einer ollen Hütte und einer Kuh ließ er mich allein. Aber nur gut, dass er weggelaufen ist, ansonsten hätte ich mich mit ihm bis zum Ende des Lebens rumgeärgert. Wahrscheinlich hat er sich irgendwo zu Tode gesoffen, ein Säufer war er nämlich. Er würde Gott rühmen, wenn dieser die Kirche anzünden und dafür ein Wirtshaus aufstellte. Einen Kaziken habe ich ihm geboren, Einen richtigen Goral.[5] Oberst…“ und das Gespräch beendend gab sie hinzu: „Marcinek, frag mich nicht weiter, weil ich schon genug Tränen vergossen habe wegen diesem Schuft.“

Die Siekierkowa nahm sich einen Anwalt aus Nowy Sacz. „Schreiben sie, dass…“ wiederholte sie dem Anwalt mehrere Male „nur auf Englisch! Dass ich ohne Marcinek nicht fahre.“

Die Schwiegertochter schickte eine zweite Einladung und ein zweites Flugticket „für Marcinek“. Im Sommer flogen sie von Warschau nach London. Ins Flugzeug einsteigend küsste die Siekierkowa den Rosenkranz, welchen sie aus ihrer Manteltasche zog und machte ein Kreuzzeichen. Als sie ihren Sitzplatz erreicht hatte, holte sie eine Zigarette heraus und begann zu rauchen. Aufgeregt kam eine Stewardess zu ihr und die Siekierkowa bot ihr eine Zigarette an. Gleich nach dem Start, als es wieder erlaubt war vom Sitz aufzustehen, begann sie im Flugzeug herumzulaufen und allen zu erzählen, dass sie ans Grab ihres Sohnes fliegt, den englischen Oberst der Division „dreiunddreißig oder so“. Das erzählte sie auch denen, die überhaupt gar kein Polnisch verstanden. Sie schauten mit einem Lächeln auf die exotische Omi im Folklore- Kopftuch, die im Flugzeug umher rannte und ohne Pause redete, ihnen eine alte schwarz/ weiß Fotografie unter die Nase hielt mit einem jungen Mann in einer britischen Uniform darauf. Eine Sache beunruhigte sie während des ganzen Fluges, ob die Rosen, die Sie auf das Grab ihres Sohnes pflanzen wollte, wenn sie ankamen, auch noch genauso frisch seien würden, wie sie waren, als sie sie vor ihrer Hütte ausgegraben hatte. Sie grub sie mit Erde aus, riss ein Laken in schmale Streifen, band sie um die Wurzelballen und befeuchtete sie mit Wasser. Als die Stewardess ihr Getränke anbot, bestellte die Siekierkowa, nachdem sie sich versicherte, dass es auch wirklich nichts kostet, zwei Wodka und eine Flasche Mineralwasser. Zuerst trank sie den Wodka aus und dann goss sie die im Laken eingewickelten Rosen.

In London erwartete sie Shilla FitzPatrick- Siekierka. Eine elegante, große, schlanke Frau unter einem fantasievollen Hut, in riesigen Sonnengläsern und einem seidenen gelb- blauen Tuch um den Kragen ihres Jacketts, eines dunkelgranatfarbenen Kostüms gewickelt. Sie hielt über den Kopf ein Stück Pappe mit der Aufschrift „Mrs. Siekierka“.

Er bemerkte es und sie gingen zu ihr. Shilla nahm ihren Hut ab. Sie legte ihn auf den Fußboden des Flughafens und sich verneigend küsste sie die Hand der Siekierkowa.

Sie fuhren vom Flughafen zu Shillas Villa in Nottingham. Die Siekierkowa saß auf dem Beifahrersitz. Als sie London verließen, schlief sie gelangweilt ein. Auf den Knien hielt sie die Rosen. Nach ungefähr drei Stunden kamen sie an. Die Siekierkowa stieg nicht aus. Sie bat Marcin, zu übersetzten, dass sie zuerst zum Friedhof fahren wollte.

Sie fuhren. Plötzlich, als sie sich auf einer engen asphaltierten Straße befanden, zu beiden Seiten Wald, bat sie Shilla, anzuhalten. Sie drehte sich um, gab ihm vorsichtig die Rosen und ohne ein Wort zu sagen, stieg sie aus dem Auto und verschwand im Wald. Kurz darauf tauchte sie am Straßenrand wieder auf und zupfte ihren Rock zurecht.

„Woher soll ich denn wissen, wo man im Flugzeug pullern geht. Vielleicht den Leuten auf den Kopf…“ sagte sie, sich wieder ins Auto setzend.

Shilla parkte vor dem Tor des mit einer Steinmauer umzäunten Parks. Als sie hineingingen, konnte man kein einziges Grab erkennen. Nach einer kleinen Weile kamen sie zu einer großen, gleichmäßig glatt gemähten Wiese. Rundherum standen Parkbänke. Shilla setzte sich auf eine. Die Siekierkowa dachte, es sei eine kurze Pause, setzte sich zu ihr und zündete sich eine Zigarette an.

Shilla, an Marcin gewand mit der Bitte, er möge übersetzen, sagte mit leiser Stimme: „Es ist hier…“

Siekierkowas Sohn hatte kein Grab. Er wollte keins. Er bat Shilla, seine Leiche nach dem Tod einäschern zu lassen und seine Asche eben genau auf dieser Wiese auszustreuen. Es war ihr Lieblingspark. Hier waren sie auf ihrem ersten Spaziergang. Hier hielten sich zum ersten Mal die Hand. Im nördlichen Teil des Parks befindet sich eine kleine anglikanische Kapelle in der sie heirateten. Jedesmal, wenn sie an ihr vorbeifuhren, hielt er kurz am Straßenrand, stieg aus, stellte sich vor das Auto, schaute sie an, nahm Haltung an und salutierte. Wenn sie heute an der Kapelle vorbeikommt hält sie auch jedes Mal an und salutiert. Hierher in diesen Park fuhren sie auch zum letzten Spaziergang vor seinem Tod- bevor seine Muskeln versagten und er nicht mehr laufen konnte.

Sie ist ein Einzelkind. Sie kam schon als Kind aus Australien hierher. Sie hat hier in England niemanden für den das Grab der beiden irgendwelche Bedeutung haben könnte. Sie konnten keine Kinder bekommen. Ihre Eltern sind schon lange tot. Ein zugewachsenes, verwildertes Grab um das sich niemand kümmert ist der einsamste Platz der Welt. Das wissen auch die Vögel, die darauf ihre Notdurft verrichten. Das wissen auch Unkraut und Wiese, die darauf  mit einer wahnsinns- Geschwindigkeit wuchern. Die Leute denken, dass in so einem Grab nur jemand liegen kann, der von allen vergessen wurde oder ein ganz schlimmer Übeltäter war, den keiner geliebt hat.

„Ich habe doch aber mit ihrem Sohn die größte Liebe dieser Erde erlebt. Die einzige, glücklichste, schönste…“ sie schaute der Siekierkowa in die Augen „Ich danke ihnen dafür.“

Sich verstohlen die Tränen wegwischend sagte sie auf Polnisch: „Dziekuje…“

Die Siekierkowa schwieg und wiegte sich hin und her auf der Bank. Sie klammerte sich nur von Zeit zu Zeit an ihren Stock oder sie berührte Shillas Knie. In einem Moment stand sie auf, nahm ihr Kopftuch ab und verdeckte damit die auf der Bank liegenden Rosen. Sie wandte sich ab und überquerte die belebte Allee, welche die Bank auf der sie eben noch saßen von der Wiese trennte. Sie zog die Schuhe aus, bevor sie die Wiese betrat. Langsamen Schrittes ging sie zur Mitte der Wiese. Sie blieb stehen und ließ sich auf die Knie fallen. Sie faltete die Hände zum Gebet.

Zwei Tage später, an einem Sonnabend, organisierte Shilla eine Feier als Willkommen für die Siekierkowa. Sie wohnten im Vorort von Nottingham in einer weißen Villa, die am Rande einer Wiese  lag, die von einem schmalen Fluss durchtrennt wurde. Zwischen dem Fluss und dem Anwesen von Shilla führte ein Kiesweg zum Haus, der in einem kreisförmigen Privatparkplatz endete. Der einzige Weg zum Eingang führte über einen Hof, der mit Zementplatten ausgelegt und von beiden Seiten umzäunt war mit einem hohen, schwarz angemalten Eisenzaun an dem Büsche von wilden Rosen rankten. Das breite Tor, das über den Hof zum Haus und zur danebenliegenden Garage führte, stand immer offen. Vor dem Tor stand ein nachlässig geparkter weißer Ford Escort. Er stand schräg zur Straße, mit den Vorderrädern auf dem Kiesweg und den Hinterrädern auf der Wiese, gleich neben dem Fluss. Er erschwerte die Zufahrt zur Garage und die Auffahrt zum Parkplatz. Als am späten Abend die Gäste kamen beobachtete Marcin mit welcher Mühe die Gäste zwischen Ford und Tor hindurchfuhren. Als sich das nächste Auto mit Mühe dort hindurchzwängte, ging er zu Shilla und fragte, ob er nicht dieses Auto umparken könnte. Shilla, die gerade mit einem älteren Herren in Uniform redete, unterbrach sofort das Gespräch, nahm ihn bei der Hand und führte ihn vom Hof, wo der Empfang zum Salon stattfand. „Dieses Auto wird niemand umparken“ sagte sie als sie die Tür schloss „jedenfalls nicht, solange ich lebe.“

Er erkrankte vor zwei Jahren und starb in den letzten sechs Monaten. Er hatte eine seltene Krankheit, welche bedingte, dass die Muskeln langsam schwanden. Auch jene, die teilhaben an der Atmung. Er versteckte das vor ihr und der Welt. Er konnte sich ein Leben ohne das Fliegen nicht vorstellen.  Die Krankheit wurde bei einer Routine Untersuchung für Piloten entdeckt.  Sie schlugen ihm eine Versetzung zu den Reservisten vor. Er war nicht einverstanden. Sie machten ihn zum Truppenführer, aber definitiv verbaten sie ihm, zu fliegen. Er wusste, dass sie Recht haben. Er selbst würde als Kommandant seinem Offizier das Fliegen verbieten, wenn er mit solch einer Diagnose zu ihm käme. Aber trotzdem hat er sich seelisch nie damit einverstanden erklärt. So begann er, in Wahrheit schon an dem Tag zu sterben, als sie ihm sagten, dass er nie wieder in ein Flugzeug steigen würde.  Er, der seinen Flugzeugen Frauennamen gab und nicht einschlafen konnte, wenn er mehr als ein paar Tage nicht ihren Lärm gehört hatte, und auf dem Flugplatz  tätschelte und klapste er die Stahlbleche nach dem Ausstieg, wie andere ihre liebsten Pferde.

Das ganze Leben ist er geflogen. Seit der Zeit in der Offiziersschule in Torun, als er, für die einen heldenhaft, für andere idiotisch, dadurch bekannt wurde, dass er als erster und einziger in der Pilotengeschichte, mit einem Doppeldecker unter der Autobrücke, welche die beiden Ufer der Weichsel verbindet, hindurchflog. Er tat das nur, um einem Mädchen zu imponieren, welches ihm gefiel. Sie wollten ihn aus der Schule werfen, aber es endete nur mit einer Degradierung. Kurz darauf war die Niederlage im Kampf um Warschau im September 39. Die Warschauer sprengten ihre Flugzeuge in die Luft, damit sie nicht in die Hände der Deutschen gerieten, er versprach sich zu rächen. Und er hielt Wort. Er kam nach England und flog in der Division 306, in der sogenannten Division Torun und auf die Haube seines Speedfire ließ er auf Polnisch anschreiben, damit die Engländer es nicht verstehen konnten, „ich mach euch fertig, ihr Fritzen[6], für Warschau!“ Er erschoss in seiner Division die meisten „Messerschmidts“. In britischer Uniform, aber mit dem polnischen Adler auf der Mütze. Als Churchill seine berühmten Worte sprach: „Niemals hieß es so vielen zu danken, so vielen Ungezählten“, da hatte er auch solche wie ihn gemeint. Nach dem Krieg blieb er in der RAF[7]. Sie baten ihn darum. Er war einverstanden, unter einer Bedingung: dass sie ihn nicht aus dem polnischen Eid entließen, welchen er ablegte, als er in die Division 306 eintrat. Am Anfang Leutnant, später Oberst der RAF. Colonel Siekierka, the wilde from Poland, dieser wilde aus Polen. So nannten sie ihn immer…

Bis zum Schluss fuhr er zum Flugplatz der Kaserne in Nottingham. Er wollte nicht, dass sie ihn wie irgendeinen Krüppel mit ihrem Auto dorthin brachte. Drei Monate vor seinem Tod fuhr er das letzte Mal dorthin. Als er zurück kam, war er so geschwächt, dass er nicht mehr aus eigener Kraft aus dem Auto aussteigen konnte. Er parkte das Auto, wie er es in diesem Zustand gerade noch am besten fertig brachte. Auf dem Rücksitz liegt seine Offiziersmütze aus Polen, welche er als Andenken immer im Auto liegen hatte. Er hatte sein Leben aufs Spiel gesetzt, sie hierher zu bringen, als er während des Krieges erst durch Rumänien und dann durch Frankreich nach England kam. Aus dem herausgezogenen Aschenbecher steht noch der Stummel seiner letzten Zigarette. Auf dem Beifahrersitz liegt eine aufgeschlagene Zeitung, welche er gelesen hatte als er an diesem Tag im Stau stand. Im Recorder steckt noch die Kassette, die er gehört hatte. Mit seiner Handschrift beschriftet, Aufnahmen nur von Opern, die außer dem Fliegen noch seine einzige Passion waren und die er verehrte. Manchmal, wenn sie ihn darum bat, oder er etwas zu viel Wein getrunken hatte, sang er ihr Fragmente von Arien vor. In allen Sprachen. Manchmal erzählte er ihr das ganze Libretto. In seinem Zimmer sind ungefähr achthundert Platten. Alles Opern. Die meisten hatte er auf Kassette überspielt und nahm sie im Auto mit. Im Handschuhfach sind seine Landkarten. Eine Karte davon ist von Polen. Immer die aktuellste. Obwohl er wusste, dass es ihm als Offizier der RAF, durch die Aufteilung der Welt nach dem Krieg und den eisernen Vorhang, nie erlaubt sein würde, nach Polen zu fahren, hatte er sie doch immer bei sich.

„Dieses Auto wird dort stehen, wie er es abgestellt hat…“

Sie kaufte von der Stadt das Stück Land am Fluss, auf dem sein Auto steht. Um sicher zu sein. Alle seine und ihre Freunde wissen darum. Für sie liegt darin nichts merkwürdiges. Manchmal gehen welche vorbei und fassen das Auto an. Und der Rest? Das ist ihr vollkommen egal. Selbst wenn sie meinen, dass es eine kitschige Kinderei ist und hinter ihrem Rücken lachen, kümmert sie sich nicht darum.

Am nächsten Tag erzählte er das der Siekierkowa. Sie nickte nur mit dem Kopf und sagte: „Ich habe eine gute Schwiegertochter. Eine Gute. Auch wenn sie keine von uns ist. Selbst eine Nicht-Polin kann gut sein…“

Am letzten Abend vor der Rückkehr nach Polen saß die Siekierkowa auf einem Stuhl vor dem Tor von Shillas Haus. Den Stuhl hatte sie so aufgestellt, dass sie mit den Knien die Tür des Escort berühren konnte. Sie betete den Rosenkranz. Manchmal hielt sie für einen Moment inne, um die Zigarette aus dem Mund zu nehmen und abzuaschen. Marcin setzte sich auf die grasbewachsene Erde neben sie. Als sie fertig war, verstaute sie die Bernsteinkette des Rosenkranzes in ihrer Rocktasche, nahm einen tiefen Zug an der Zigarette und den Qualm ausstoßend sagte sie „Marcin, ich glaube, dass Gott nicht möchte, dass dieses Auto hier steht. Ich möchte das auch nicht. Das habe ich ihm gerade gesagt. Ein Auto ist schließlich nicht von Bestand. Die Berge haben Bestand. Man muss an Gott glauben, aber an einen unbestimmten Gott. Er hat so viele Sachen zu erledigen, dass er oft etwas vergisst. Deswegen werde ich selbst morgen die Kazikowa[8] bitten, dir das Auto zu geben…. Du bist schließlich wie mein Sohn.“ „Das muss doch nicht sein, Frau Siekierkowa“ sagte er und drückte ihr die Hand „was soll ich mit so einem Auto? Einen Führerschein habe ich nicht und für Benzin reicht mir das Geld nicht. Außerdem müsste Mama das Feld verkaufen, um die Steuern zu bezahlen. Besser, es steht hier, und nicht  in Biczyce, Frau Siekierkowa. Shilla wird traurig sein, wenn sie sie darum bitten.

Am Tag vor ihrer Rückkehr nach Polen, öffnete er, geheim vor der Siekierkowa, zusammen mit Shilla den Escort und sie sammelten alle Kassetten ein, die auf dem Boden des Autos lagen. Sie ließen nur die eine im Recorder stecken. Shilla packte sie alle in einen Karton und beim Abschied auf dem Flughafen drückte sie ihn der Siekierkowa in die Hand. Während des Fluges hielt die Siekierkowa den Karton auf dem Schoß und trennte sich nicht von ihm, auch nicht während der Mahlzeit. Auf dem Flughafen in Warschau hätte sie um ein Haar den Zollbeamten mit ihrem Stock verprügelt, der ihr die Kassetten wegnehmen wollte, als sich herausstellte, dass sie nicht genug Geld hatte, um den Einfuhrzoll zu bezahlen für „Magnetbänder, die in einer Anzahl zum Zwecke des Handelns befördert werden“. Am Ende drohte sie, dass sie keiner aus diesem Flughafen herausbringt, auch nicht mit stärkster Gewalt, nach einer Intervention des Chefs der Zollbehörde erklärten sie sich einverstanden, „auf dem Wege einer Ausnahme“ eine Rechnung auf Kredit auszuschreiben und die Siekierkowa durfte die Kassetten mitnehmen. Wahrscheinlich hat sie die Rechnung bis heute nicht bezahlt. Nach der Rückkehr nach Biczyce, bevor sie sich ein Radio mit Kassettenteil gekauft hatte, ging sie jeden Abend zweieinhalb Monate lang zu Familie Gasienica, die als einzige im Dorf einen Recorder hatten. Ziutek Gasienica erzählt bis heute in der Kneipe, dass das die besten zweieinhalb Monate seines Lebens waren, weil die Siekierkowa jeden Abend „ein Fläschchen oder zwei plus eine gute Aufnahme“ mitbrachte und ihm das nach einer Woche sogar anfing zu gefallen, überflüssig zu erwähnen, dass er bei „seiner Alten gepunktet“ hatte, weil er jeden Abend mit ihr zu Hause verbrachte für „fast ein ganzes Quartal“. Als in Polen Walkmans auftauchten, war die Siekierkowa im Dorf die erste, die einen hatte. Marcin vergisst den Anblick nie, wie er die Siekierkowa das erste Mal sah, als sie mit den schwarzen Kopfhörern über dem geblümten Kopftuch durchs Dorf humpelnd Opern hört.

 

                                                                 *

 

„An Gott muss man glauben, aber an einen unbestimmten Gott“.

Bis heute erinnert er sich an diese Worte, als wäre es gestern gewesen…

Ein kalter Luftzug, der in die Wohnung kam, riss ihn aus seinen Gedanken. Die Siekierkowa stand angezogen im Fellmantel und fertig zum Rausgehen in der offenen Tür. Er brachte sie bis zu ihrem Haus. Der Frost erfrischte ihn zuerst, doch dann wurde er lästig und drang mit seiner schmerzenden Kälte durch, als Marcin schon auf dem Rückweg war auf der vereisten Chaussee. Zu Hause ging er sofort in die Küche, um Tee zu kochen. Aus dem verrußten Aluminiumkessel von der eisernen Herdplatte goss er das kochende Wasser in zwei Gläser mit Metallkörbchen und stellte sie auf das hölzerne Tablett, nahm die Zuckerdose aus dem Schrank, zwei Löffel aus der Kommodenschublade und ging mit dem ganzen ins Schlafzimmer. Erst auf der Schwelle von der Küche ins Zimmer, welche die Mutter seit acht Jahren nicht mehr übertreten hatte, bemerkte er, was er da tat.  Mit dem Tablett in der Hand schaute er auf das mit einer dicken bestickten Decke bedeckte Bett. Er machte ruckartig kehrt, verschüttete dabei den Tee und verbrühte sich die Hände. Er eilte zurück in die Küche. Er stellte das Tablett aufs Fensterbrett und ließ sich schwerfällig auf die Bank fallen. Durch seine Tränen sah er ein Paar aus dem Wasserkessel steigen. Aus dem leeren Zimmer in dem das Totenmahl stattfand kehrte die Stimme der Siekierkowa wie ein Echo zurück: „Ganz allein bist du jetzt, Marcinek, allein wie dieser Daumen. Ganz allein bist du jetzt...

 

                                                              *

 

Es vergingen fast vier Monate. Manchmal passierte es ihm noch, dass er vergaß und zwei Gläser statt eines aus dem Schrank nahm, zwei Löffel auf zwei Untertassen legte und zum Abendbrot ein paar Scheiben Brot zu viel abschnitt. Die Leere nach der Mutter war immer noch eindringlich, tat aber nicht mehr so weh.

Wenn er beschreiben sollte, was in dieser Zeit in seinem Leben alles passierte, hätte diese Beschreibung auf ein kleines Stück Papier gepasst. Genau solche, wie er eines Abends einige in der Nachttischschublade neben dem Bett seiner Mutter fand, ungeschickt aus einem Schulheft herausgerissene Seiten. Während der vielen Monate ihrer Rehabilitation, als er zur Arbeit ins Museum fuhr, wollte sie um jeden Preis mit der linken Hand schreiben lernen. Sie tat das heimlich. Sie nahm das Gebetbuch und bemühte sich, Gebetstexte abzuschreiben. Den Stapel Zettel durchsehend, erkannte er, wie sich aus anfänglich unlesbarem Gekritzel erst Buchstaben, dann Wörter und später ganze Sätze formten. Es gab überhaupt gar keinen Grund, wozu sie irgendetwas hätte schreiben müssen. Sie wollte sich einfach selbst beweisen, dass sie immer noch etwas lernen konnte. Ihr ganzes Leben lang war sie so…

Er mied das Zimmer. Eines Tages, als er von der Arbeit wiederkam, verschloss er es. Die Tür stand acht Jahre lang sperrangelweit offen und nun hatte sich die Schwelle verformt durch das Schleifen seiner Schritte, so dass unter der Tür ein Spalt entstanden war. Er musste es verschließen. Als Akt des Selbstschutzes- niemals mehr wird er dort zwei Gläser Tee hineintragen, gedankenverloren eine Schüssel mit ihrem Lieblingsquark mit Radieschen anrichten, nachts aufstehen, um die Nachttischlampe auszumachen und der Mutter vorsichtig das Buch aus den Händen nehmen über welchem sie eingeschlafen war. Vorsichtig die schlafende Katze von ihrer Brust nehmen und den Hund vom Bett verscheuchen.

Die abgeschlossene Zimmertür- so schien es ihm- sollte ihn daran erinnern, dass es sie wirklich nicht mehr gab. Für ein paar Wochen war es tatsächlich so. Aber dann, vor allem abends, erinnerte sie ihn um so mehr. Die Tür erinnerte ihn daran, dass er dahinter sein bisheriges Lebensziel verschlossen hatte. Das ganze Programm, um nicht zu sagen, Zeremonie, welche die Arbeit und das Pflegen der Mutter bedeutete. Die Einsamkeit, ja noch nicht einmal der Gedanke an Einsamkeit gehörte zu dieser Zeremonie. Die Verpflichtungen im Museum, die Aufsicht über die Mutter und die Arbeit auf dem Feld- dieses Schema für Tage, Monate und Jahreszeiten ließ ihm keine Zeit darüber nachzudenken, dass er allein ist. Jetzt, durch dieses Verschließen der Tür brach dieses Thema hervor und plötzlich fühlte er sich ausgestoßen, verlassen, nutzlos.

 

                                                                *

 

Jeder Tag war gleich. So schrecklich gleichförmig. Er stand früh auf, zog sich an, heizte den Ofen und ohne Frühstück fuhr er zur Arbeit nach Nowy Sacz. Er hielt vor dem Tor auf der Rückseite des Museums, stieg aus dem Auto aus und öffnete das mit Grafitti bemalte Stahltor, ging zurück und parkte das Auto auf dem Hof unter den vergitterten Fenstern des Parterre. Er stieg die knarrenden Stufen hinauf in sein Büro unter dem Dach, welches er nur verließ, wenn er in der Stadt etwas zu erledigen hatte. Mittags, wenn die Glocken im Turm der Kirche in der Nähe für die Engel des Herren läuteten, zog er ein Brot mit Pastete aus seiner schwarzen Aktentasche und aß, während er auf die Straße vor dem Museum schaute. Manchmal schrieb er irgendwelche Dokumente oder Berichte an einem ausgedienten Computer, und manchmal sprach er auch mit Mira, der Aufsicht im Museum. Das war im allgemeinen schwierig für ihn. Sie verunsicherte ihn und brachte ihn in Schwierigkeiten, wenn sie gelegentlich bei diesen Gesprächen neben ihm am Schreibtisch saß, auf welchem der Computer stand und während sie ihm etwas am Bildschirm des Monitors zeigte, versehentlich mit den Knien oder den Armen berührte. Er wurde dann rot im Gesicht und musste sich darauf konzentrieren, dass sie nichts von seinen Schwierigkeiten merkte. Der Geruch ihres Parfüms roch er noch tagelang nach so einem Gespräch in seinem Büro.

Gegen sechszehn Uhr machte er mit einem großen Entwurf einen Rundgang durch das Museum, in welchem sich in Wirklichkeit seit Jahren nichts verändert hatte. Auf jeden Fall war das der glanzvollste Moment seines Tages.

In zwei Sälen hatten sie Ikonen. Eine der größten Sammlungen westkyrillischer Ikonen in Polen. Perlen der kyrillischen Kunst aus vier Jahrhunderten, seit dem 15. Jahrhundert. Als die Mutter erkrankte und er die Arbeit wechseln musste, kam er ins Museum hauptsächlich, weil er von diesen Ikonen verzaubert war. Trotz der vielen Jahre, spürte er immer noch diese Verzauberung durch diese Ikonen. Darum ließ er sich die Säle mit den Ikonen immer bis zum Schluss seines Rundgangs übrig. Er hatte eine Lieblingsikone. Die Lukasikone. Er ließ sie mittig an einer Wand aufhängen, mit reichlich Abstand zu den anderen, damit sie ihr die Schönheit nicht streitig machten.  Wenn durch die hohen Fenster das Sonnenlicht hereinfiel und sich an den vergoldeten Ornamenten reflektierte, kam es ihm so vor, als würde ein Chor singen. Nicht nur er hatte solche Gefühle. Einmal kam Frau Mira zu einem Treffen mit ihm und brachte das große, in Leder eingeschlagene, Gästebuch des Museums mit. Jemand hatte dort zwei Sätze eingeschrieben, die auch ihn sehr bewegten: „Es gibt Museen, in welchen man sich verneigen und beten möchte. Dieses kleine Museum hat so etwas.“

 

                                                          *

 

Anfang April setzte er einen Grabstein aus Marmor auf das Grab seiner Mutter. Er wollte, dass seine Brüder, wenn sie zu Ostern nach Biczyce kamen, alle auf den Friedhof bei der Kirche gehen und an einem richtigen Grab stehen konnten. Eines Tages nahm er die alte Siekierkowa mit nach Nowy Sacz, um einen Grabstein auszusuchen. Sie fuhren von Friedhof zu Friedhof bis sie ihn endlich fanden. Es war ein schwarzer, schwerer Marmorblock mit unregelmäßiger grauer Maserung. Er sah aus, wie aus einem größeren Ganzen herausgebrochen. Alle Steinmetze und Totengräber, welche sie aufsuchten, begrüßten die alte Siekierkowa wie eine alte Bekannte. Manche boten ihr sogar Wodka an und auf ihre Bitte hin, führten sie sie zu Gräbern an welchen sie auf Knien betete. Als sie an diesem Abend spät nach Hause kamen, bat die Siekierkowa ihn, das Schlafzimmer der Mutter betreten zu dürfen. Er fragte nicht einmal warum. Und er ging nicht mit ihr in dieses Zimmer. Er nahm den Schlüssel vom Haken in der Nische und öffnete die Tür- zum ersten Mal, seitdem er sie damals verschlossen hatte- und als sie in der Dunkelheit hinter der Schwelle verschwunden war. Er verzog sich in die Küche. Hinterher, als er die Siekierkowa zu ihrer Hütte zurück brachte, sagte sie zu ihm: „Marcinek, ohne Weib und Kinder ist diese Hütte verlassen wie ein Grab. Und du hast schließlich schon ein Grab auf dem Friedhof am Hügel. Mach dir kein zweites zu Hause. Das Leben ist dazu da, um zu leben. So sagte immer deine Mutter. Sie hat wirklich gelebt. Sogar dann noch als sie nur noch den Kopf und den kleinen Finger an der linken Hand bewegen konnte.“

Das brauchte er ihr nicht zu sagen. Er wusste das, aber das änderte nichts. Um das Leben zu überleben, braucht man einen Sinn. Um morgens aus dem Bett aufzustehen, muss man darin irgend ein Ziel sehen. Mit dem Tod seiner Mutter verlor er plötzlich dieses Ziel. Er wurde nun von niemandem mehr gebraucht. Er hatte das Gefühl, dass mit dem Tod der Mutter alles Wichtige unwiederbringlich in die Vergangenheit verschwand, und es war ihm schwer, zu glauben, dass in der Zukunft noch irgendetwas von Bedeutung in sein Leben treten könnte. Die Betreuung seiner Mutter bezeichnete seine Gegenwart und die verlor er, als die Mutter starb.

Die Siekierkowa verstand es noch besser als seine Mutter in der Gegenwart zu leben. Trotz ihrer fantastischen Religiosität resignierte sie nicht für einen Moment mit dem Überleben des Lebens im Hier und Jetzt in der Erwartung irgend etwas anderem, besserem nach dem Tod. Davon hielt sie kein Unglück und kein Leid ab, welche ihr begegneten und auch keine monotone Alltäglichkeit, auch keine Krankheiten und Gebrechlichkeit, welche anderen längst alle Hoffnungen genommen hätten. Die Siekierkowa war wie niemand anderes den er kannte einverstanden mit dem Fakt, dass der Mensch ohne eigenen Willen auf die Welt kommt und für ein Leben bleibt, mit welchem er irgendwie zurechtkommen muss. Selbst wenn sie an die von Pfarrer Jamrozy versprochene Erlösung glaubte, hatte sie mit Sicherheit Zweifel, ob man unbedingt auf die Erfüllung dieses Versprechens warten muss, sich sorgend und auf jegliche Freuden verzichtend, welche meistens die Sünde mit sich führen. Um so mehr Jamrozy Sonntag für Sonntag an dieses Versprechen erinnerte, hinterging er es doch Jahr für Jahr, er wurde immer röter im Gesicht, und wenn er sich doch Sorgen machte, was die alte Siekierkowa bezweifelte, so war es wohl die Walczakowa die ihn, besonders nachts, darüber hinwegtröstete und half, das irgendwie durchzustehen.

Die Stimme der Siekierkowa riss ihn aus seinen Gedanken. Sie war schon aus dem Auto ausgestiegen. Mit dem Rücken zu ihm sprach sie: „Du brauchst eine Hausfrau. Eine gute Frau brauchst du. Weil du auch ein ganz ein Guter bist, Marcinek.“

Frauen…

Wäre Mutter nicht gewesen, würde er sie nur in Verbindung sehen mit Angst und Unsicherheit. Genau so. Unter Schwierigkeiten erinnerte er sich noch an den Lebensabschnitt, als er sich noch nicht vor Frauen fürchtete. Wenn er im Gedächtnis in die Zeit „vor Marta“ zurückkehrte, kam es ihm so vor, als erinnere er sich an ein Fragment einer Biografie eines anderen Mannes. Sein Leben teilte sich ungefähr wie die Weltgeschichte in die Zeit „vor“ und „nach“. Nur dass es bei ihm nicht die Zeit vor den Geburten sondern vor dem Tod war.

 

                                                               *

 

Marta traf in sein Leben wie ein Frühlingsregen, mit welchem niemand gerechnet hätte. Der Rest ereignete sich wirklich mit Regen. Er wartete in Gliwice auf den Zug nach Nowy Sacz. An den Wochenenden blieb er nicht in der Akademie, sondern fuhr zur Mutter und den Brüdern, um in der Wirtschaft zu helfen. Im Frühling, als es im allgemeinen viel Arbeit gab, versuchte er sich in der Polytechnik freizumachen und auch am Donnerstag nach Hause zu fahren. Und eben an einem solchen Donnerstag wartete er auf die Einfahrt des Zuges zusammen mit anderen, geschützt unter dem löchrigen Blechdach des Bahnhofs. Trotz Sonnenschein regnete es immer wieder plötzlich aus den vom starken Wind herangetriebenen Wolken. Als der Zug auf den Bahnsteig einfuhr, erschien aus der Unterführung eine junge Frau mit einem Koffer in der einen und einem geöffneten Regenschirm in der anderen Hand. Sie rannte wie verrückt, hielt alle paar Meter an, um den unglaublich schweren Koffer auf die Betonplatten des Bahnsteigs abzusetzen. Die offenen Haare verdeckten ihr Gesicht. Der Wind krempelte ihr den Schirm um, riss ihn ihr aus der Hand und knallte genau gegen die Front des einfahrenden Zuges. Sie stand da, hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund und schaute was passiert war. Marcin drängte sich durch die Menge, um zu dem überfüllten Zug durchzukommen. Er kam gerannt, hob ihr Gepäck auf und rief: „Rennen sie mir bitte nach, wir schaffen ihn noch!“ Mit dem Koffer in der Hand strebte er zum nächsten Wagon. „Lassen sie ihn stehen… Ich fahre nirgendwo hin. Bitte stellen sie sofort meinen Koffer hin! Ich fahre nirgendwo hin! Hören sie?! Ich fahre nirgendwo hin, verdammt noch mal! Niemals!!“ schreite sie hysterisch hinter ihm. Er blieb stehen und drehte sich um. Sie setzte sich auf die Bahnhofsbank. Sie weinte.

Er weiß nicht wieso, aber der Anblick des weinenden Mädchens rührte ihn so sehr, dass er alles andere für unwichtig empfand, ohne Bedeutung. Er setzte sich neben sie auf die Bank. Sie schwiegen als der Bahnsteig sich leerte und der Zug sich wieder auf den Weg machte.

So lernte er Marta kennen.

Sie studierte in Krakau Theaterwissenschaften. Sie war ein Einzelkind, von der Mutter erzogen, welche nach dem Tod ihres Mannes, eines bekannten Warschauer Journalisten, ihre Tochter vereinnahmend liebte. Befallen von panischer Angst um das Schicksal von Marta, plante sie für sie das ganze kommende Leben. Marta begann, oft nur aus Trotz, eigene Pläne zu haben, was wiederum die Mutter in ihrer Ansicht bestärkte, dass sie sie um so mehr behüten muss vor „an jeder Ecke lauernden Gefahren“. Sie brachte es fertig, stundenlang im Auto vor dem Haus der Freundinnen ihrer Tochter zu warten, Gymnasiastinnen, wenn die Jugend ein Privattreffen organisierte. Marta wehrte sich immer mehr, sie wollte nicht mehr wie ein Vorschulkind behandelt werden. Erst waren es lange Gespräche mit der Mutter, dann fortwährende Diskussionen und schließlich tägliche Streits. Die Mutter kam nicht auf den Gedanken, dass sie den größten Fehler damit begeht, indem sie die Tochter davor bewahren möchte, Fehler zu begehen. In einer Aktion verzweifelten Protestes, entschloss sich Marta, aus Warschau wegzugehen und in Krakau zu studieren. Es dauerte zwei Jahre bis sich die Mutter mit dieser Entscheidung anfreundete. Damals, an diesem Donnerstag, kehrte Marta gerade aus Prag zurück, wo sie ein paar Tage mit ihrer Mutter verbracht hatte. Zum ersten Mal seit zwei Jahren verbrachten sie zusammen mehr als nur ein paar Stunden. Die Mutter, eine bekannte Kardiologin, hielt sich in Gliwice auf, um sich mit Professor Religa zu treffen und Marta kehrte zurück nach Krakau.

Marcin erfuhr das alles eines Abends, ein Jahr nach dieser Begegnung. Er liebte sie schon damals. Er liebte alles an ihr. Und in ihr auch. Sogar ihren Koffer vom Bahnhof.

Und diese Liebe war nicht nur Leidenschaft, die berauscht, blind macht, die Luft abschnürt und … nach einiger Zeit vergeht. Fast verzweifelt fühlte er dieses Verlangen, aber noch mehr fühlte er Nähe, Verehrung und das Bekennen, dass er eine Frau getroffen hatte mit der er wirklich jeden Tag von vorne anfangen konnte und nicht nur wollte. Er ließ den Gedanken nicht zu, dass sie in ihm ganz und gar nicht ihre Bestimmung sah. Er verehrte sie, er schwärmte und ignorierte die Tatsache, die besagte, dass sie aus seiner Besatzung davonlaufen wollte, wie sie vor der Mutter weggelaufen war. Für sie ist Liebe- später hat sie ihm das gesagt- ein Seelenzustand. So wie er sich zum Beispiel einstellt, wenn man die neunte Sinfonie von Beethoven hört. Dieser Zustand kann geboren werden aus etwas Bestehendem, kann aber genauso enden.

Marcin tauchte in ihrem Leben auf, als sie sich verloren fühlte und jemanden brauchte, der ihr zuhörte. Aber nur dann, wenn sie Zeit und Lust haben würde auf ein Gespräch. Außerdem war er - für sie und ihre Freunde- exotisch, aus einer anderen Welt. Kein Warschauer, kein Theater- Krakauer. Ein Goral aus Biczyce, welches er ihr auf der Karte zeigen musste. Ein kräftiger Mann für den „ja“ immer auch „ja“ bedeutete. Er betete sie an und sagte ihr das. Er war bereit, alles für sie zu tun. Wenn sie ihm befehlen würde, mit der linken Hand schreiben zu lernen, täte er das, sogar ohne zu fragen warum.

Er klärte nichts. Er wartete auf die Entlassung, glaubend dass sie ohne diese Entlassung „zusammen sein“ würden. Es reichte ihm, dass er während eines Spaziergangs ihre Hand halten oder sie im dunklen Kino küssen durfte. Nach zehn Monaten dieses „Zusammenseins“ blieb er über Nacht bei ihr. Nichts großartiges- zumindest ihrer Meinung nach- passierte. Er berührte zum ersten Mal ihre Brust, küsste ihren Rücken. Die Nacht verbrachte er auf dem Teppich vor ihrem Bett. Er wachte auf, stand auf und kontrollierte, ob sie gut zugedeckt sei. Seit dieser Nacht betrachtete er sie als „seine Frau“.

Sie erwiderte diese Liebe nie. Nach ein paar Monaten genierte sie sich mit ihm vor ihren Bekannten. Er passte nicht zu dieser künstlichen und aufgeblasenen Gruppe zukünftiger Künstler, welchen es nach großen Mengen billigen Bieres so vorkam als bildeten sie „die Boheme von Osteuropa“. In ihrer Naivität meinten sie, dass sie, indem sie ein literarisches Werk mit in die Kneipe nehmen und demonstrativ neben den Bierkrug legten, sich würdiger betrinken könnten.

Es gelang ihm einfach nichts, er kannte niemanden wichtiges, der etwas „arrangieren“ könnte, und dadurch, dass er so war wie aus dem Freilichtmuseum, fing es irgendwann an zu langweilen. Um so mehr sich Marta von ihm entfernte, um so enger verband er sich mit ihr und suchte die Fehler bei sich.

Anstatt nach Biczyce zu fahren, verbrachte er seine Wochenenden in Gliwice und wartete auf ihren Anruf. Manchmal rief sie an und er fuhr zu ihr, um ein paar Stunden in verrauchten Klubs unter Leuten, die er nicht mochte und in dessen Gesellschaft er sich schlecht fühlte zu verbringen. Um so mehr Zeit er mit ihnen verbrachte, um so doller foppten sie ihn auf Grund seiner Außergewöhnlichkeit.

Es schien ihnen, dass sie nur ein paar Zitate der großen Philosophen auswendig zu lernen brauchten oder im betrunkenen Zustand ständig die selben Gedichte aufzusagen und alle Welt würde auf die Knie fallen angesichts ihrer intelligenten avantgardistischen Sensibilität. Wenn die Welt jedoch nicht den Eindruck des Entzückens machte, fühlten sie sich gerne unverstanden und unzugehörig zu diesen „Prolls“, die da „wiederkauen den ekeligen Brei des Kommerz, der ihnen von korrupten Medien hingeworfen wird.“ Jedes Konzert, das sie sich anhörten war entweder „psychedelisch“ oder „psychedelisch angehaucht“, jedes Buch das sie durchgelesen hatten- so meinten sie, aber meistens lasen sie nur einige ausgewählte Seiten und lernten die Rezension aus einer elitären, niedrig aufgelegten Literaturzeitschrift auswendig- war „eine Perle aus dem höchsten Regal, an das der Pöbel nicht heranreicht“, jedes Theaterspektakel, das sie sich ansahen „enthielt eine vorrausschauende metaphysische Botschaft“. Sie wollten unbedingt für Gelehrte und Intellektuelle gehalten werden und vergaßen dabei die Buchbinder, welche die Bücher gebunden hatten, die sie nie gelesen hatten.

Sie erzählten außerdem erlogenen Quatsch. Jeder erzählt mal irgendwann dummes Zeug, aber sie erzählten es so feierlich. Mit pathetischer, theatralisch verstellter Stimme, immer bedacht auf die Sekunden der Stille zwischen den einzelnen Schlücken Bier. Und was das wahrscheinlich Unerträglichste für ihn war, er konnte nicht verstehen, dass Marta das nicht bemerkte und ihr dieser pseudointellektuelle Unsinn gefiel. Trotzdem ging er dort mit Marta hin. Er erklärte sich, das es doch keine Verschwendung sei. Da er es doch ausschließlich für sie tat.

Eines Sonnabends gingen sie in einer großen Gruppe zu Martas Haltestelle. Aus Versehen ließ er dort seinen Rucksack mit seinen Notizen und Heften liegen. Er brauchte sie für das Seminar am Montag. Sonntagabend bemerkte er den Verlust seines Rucksacks. Am nächsten Morgen stand er sehr früh auf und fuhr nach Krakau. Im Geschäft am Bahnhof kaufte er Milch. Er wusste, dass Marta es liebte, den Tag mit einem Glas warmer Milch zu beginnen. „Ich habe dir Milch mitgebracht mit zwei Prozent Fett, so wie du sie magst“ sagte er mit einem Lächeln, als die Tür zu Martas Wohnung aufging.

In der Tür stand ein Mann. Nackt, nur mit einem weißen Handtuch um die Hüften. Er maß ihn abschätzig von Kopf bis Fuß und rief dann ins Innere der Wohnung: „Marta, hast du irgendwelche Milch bestellt?!“ „Nein, ich bestelle nie Milch. Wieso?“ war die verwunderte Marta zu hören und danach die Schritte nackter Füße auf den Dielen.

Sie stand neben dem Mann nur in Unterwäsche. Mit offenem, zerzausten Haar und einem Kamm in der linken Hand. Sie schaute ihn an. Sie blickten sich ganz kurz in die Augen. Er ließ die Packung Milch auf den Boden fallen. Er wandte den Kopf ab und lief so schnell er konnte die Treppen runter.

„Marcin…. ich bitte dich, komm zurück! Marcin!“ hörte er hinter sich ihren Schrei. Er ging nicht zurück. Er lief weg. In panischer Angst lief er davon. Er fühlte weder Wut noch Erniedrigung. Er war noch nicht einmal böse. Er hatte nur panische Angst. Als er die Treppen herunter stürmte, fühlte er zum ersten Mal diese ihn packende Angst. Außerdem fühlte er nichts anderes. Weder den Schmerz vom kaputten Knie, das er sich beim Sturz auf dem Treppenabsatz zwischen den Stockwerken gestoßen hatte, noch den Schmerz der aufgeschürften Haut an der Stirn, als er sich den Kopf an einem Briefkasten im Hauseingang stieß.

Er raste den Bürgersteig entlang und rempelte die Leute an, die zur Arbeit hasteten. Ohne sich umzudrehen bog er in einem Moment in die Straße ein, die zum Bahnhof führte. Plötzlich spürte er einen Schlag in den Schenkel und hörte das Quietschen der Bremsen. Er fiel hin. Aus dem Taxi, welches ihn angefahren hatte sprang der Fahrer und beugte sich über ihn. „Du bist mir vor die Räder gelaufen, ich konnte nichts machen. Dafür habe ich eine Beule im Taxi!“ schrie er. „Hörst du mich? Verstehst du?“ fragte er und wischte ihm das Blut von der Stirn. Marcin schob die Hand des Fahrers zur Seite, erhob sich ohne ein Wort und rannte weiter. In der Unterführung des Bahnhofs bog er in den ersten Seitengang, der Treppen zu einem Bahnsteig hatte.

Er stieg in den abfahrenden Zug. Er öffnete die Türen zum ersten Abteil. Eine ältere Frau, die am Fenster saß, schaute ihn erschrocken an. Sie stand auf, holte ihr Gepäck von der Ablage und verschwand in Panik. Sich setzend warf er einen Blick auf sein Abbild im Spiegel über den Sitzen des Abteils. Das verschmierte, geronnene Blut, vermischt mit schwarzem Staub und Schmutz von der Fahrbahn, auf die er gefallen war, als er vom Taxi angefahren wurde, verdeckte seine ganze Stirn und den Haaransatz. Aus der Wunde an der Stirn begann das Blut in einem kleinen Rinnsal zum Ohr zu laufen. Er rannte aus dem Abteil und verschloss sich in der Toilette. Er wusch sich das Gesicht und trocknete es mit Toilettenpapier ab. An der ersten Station stieg er aus. Immer noch von der Angst gepackt, begann er wieder zu flüchten.

Die einen flüchten vor dem Leid in irgendeine fiktive Welt, vollgelaufen mit Ethanol oder kreiert aus irgendwelchen verdächtigen chemischen Substanzen, andere leben wahnsinnig, als wenn jeder Tag das letzte Datum im Kalender der Welt sein sollte, wieder andere werden zu Eiszapfen. Er begann sich zu fürchten. In panikartiger Angst oder auch in beständiger, stundenlang anhaltender Angst, nimmt das Leiden einen zweiten Plan an oder verschwindet ganz. Das wichtigste ist, sich nicht zu fürchten. Er fürchtete sich zwei Jahre lang. Er konnte die Ursache seiner Furcht nicht benennen. Es kam plötzlich. Ohne Vorwarnung. Um vier Uhr morgens wachte er manchmal in einer Panikattacke aus dem Schlaf auf, zog sich schnell eine Jacke über den nassgeschwitzten Schlafanzug und ging raus in ein Wäldchen nahe der Akademie. Alle Pförtnerinnen unten an der Rezeption kannten seine „komische Krankheit“ und öffneten ohne ein Wort die Tür. Er lief so lange bis die Attacke wegging. In der Jackentasche hatte er immer eine Plastik- oder Papiertüte dabei, die er an den Mund setzte, wenn er merkte, dass ihm die Augenlieder zitterten oder die Muskeln der Hände oder der Beine. Wenn der Atem etwas zu kurz und zu flach geht, kommt zu viel Sauerstoff ins Blut. Die Ärzte nennen das Hyperventilation. Ein bisschen zu viel Sauerstoff und ein bisschen zu wenig Kohlendioxid im Blut. Das Zittern der Muskeln deutet zumindest auf ein Symptom der Hyperventilation. Im schlimmsten Fall kommt es zu Ohnmacht und Kollaps. Um den Anteil des Kohlendioxids zu erhöhen, sollte man aus einer Tüte atmen. Bis jetzt war er nur einmal bei einer Attacke in Ohnmacht gefallen. Die Pförtnerin fand ihn, da sie beunruhigt war darüber, dass er so lange nicht zurück kam. Er wachte im Rettungswagen auf, der ihn mit Sirene ins Krankenhaus brachte. Sie untersuchten ihn eine ganze Woche lang. Sie fanden nicht eine einzige organische Ursache für seine Panikattacken. Sie entließen ihn mit der Diagnose „Angstneurose“. Der junge Arzt, der ihm das Schriftstück aushändigte sagte: „Sie jagen hinter etwas her oder sie laufen vor etwas davon. Das ist in ihrem Kopf. Ich rate ihnen, sich der Sache anzunehmen.“

Seitdem geht er nicht mehr aus dem Haus ohne sich vorher zu vergewissern, ob er eine Papiertüte in der Tasche hat.

Zwei Wochen nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hatte er die nächste Attacke. Es war im Vorlesungsgebäude. Er bemühte sich, so langsam wie möglich zu atmen. Mit den Händen drückte er seine schlotternden Beine auf den Fußboden. Als eine Studienkollegin neben ihm erschrocken ausrief: „Marcin, was ist mit dir? Du bist ja blass wie Pergament, der Schweiß läuft dir. Erstickst du? Du atmest so komisch…“

Er kam nicht dazu, ihr zu antworten, er musste aus dem Vorlesungssaal rennen. An diesem Tag fand er im Telefonbuch die Nummer einer psychiatrischen Praxis.  Sie hatten an der Schule natürlich einen eigenen Psychologen, er meinte jedoch, dass dieser ihm nun nicht gerade helfen könnte. Er war sehr beliebt unter den Studenten, hauptsächlich deswegen, weil er ohne groß zu fragen, Beurlaubungen ausschrieb. Marcin wollte nicht, dass irgendein Studienfreund ihn dort im Wartezimmer sitzen sah. Alle wussten, dass er niemals Gebrauch machen würde von solchen Beurlaubungen. Er fuhr lieber nach Katowice.

Die psychiatrische Praxis befand sich in einer privaten Wohnung im siebenten Stock eines obskuren, grauen Hochhauses inmitten ähnlicher solcher Hochhäuser. Im Vorzimmer des Wartezimmers standen vier weiße Stühle. Auf einem kleinen Korbstuhl, der vor einem Kristallspiegel stand, lag ein Haufen Flugblätter mit dem Angebot zum Eintritt in den Klub der anonymen Alkoholiker. Auf den Flugblättern schlief eine große schwarze Katze mit halb geöffneten Augen. Die Wände des Vorzimmers waren vollgehängt mit schwarz/ weiß Fotos von Baudenkmälern in Vilnius. Auf einem der Stühle saß eine junge Frau und kaute nervös an ihren Fingernägeln. Das Handgelenk und der Unterarm ihrer linken Hand waren mit einer von Essen bekleckerten elastischen Bandage umwickelt. Er setzte sich auf den Stuhl neben diese Frau. Sie stand sofort auf und setzte sich auf den Stuhl der am weitesten von ihm entfernt stand. Kurz darauf öffnete sich die Tür eines der Zimmer und eine kleine, hinkende alte Frau mit grauen Haaren kam heraus. Die Knöpfe ihres weißen Arztkittels zuknöpfend nickte sie ihm zu. Als sie die Frau mit der Bandage sah, hielt sie inne und sagte: „Magda, Warum wartest du schon wieder hier? Ich verschreibe dir jetzt keine Tabletten mehr. Das kann ich nicht. Das habe ich dir gestern Abend schon ganz genau erklärt… „

Die junge Frau warf ihr einen flehenden Blick zu. „Nur noch einmal. Das letzte Mal. Frau Doktor, das letzte Mal. Bitte! Das zerreißt mich so und tut so weh…“

Die Ärztin ignorierte sie. Sie wandte den Kopf in seine Richtung. „Gehen sie schon mal ins Behandlungszimmer. Ich komme gleich. Trinken sie Tee?“ fragte sie.

Er stand auf und ging in Richtung der geöffneten Tür. In diesem Moment erhob sich die junge Frau vom Stuhl und mit einer Handbewegung schubste sie die Katze vom Stuhl vor dem Spiegel. Sie stieß sich den Kopf am Türrahmen der Badtür, miaute laut und verschwand aus der Praxis.

„Du alte russische Nutte“ schrie sie hasserfüllt in Richtung der Ärztin. Gleich darauf lief sie aus der Praxis und knallte mit der Tür. Die Ärztin gab sich völlig unbeeindruckt von dieser Vorstellung. Sie schüttelte nur den Kopf und kam ruhig zu ihm zurück. „Möchten sie nun den Tee oder nicht? Ich gehe nämlich gerade in die Küche.“ „Ja, bitte.“ antworte er unsicher, er wusste nicht, ob er jetzt in den Behandlungsraum gehen oder lieber rauslaufen sollte, wie die Frau vor ihm und nie wieder her kommen.

Während der ersten drei Sitzungen sprach er hauptsächlich über seine Angst. Über sein Herz, das auf 200 Schläge pro Minute beschleunigt. Über die Schwindelanfälle, bei denen er das Gefühl hat, gleich umzufallen und sich deswegen an der Wand fest hält. Über seinen Brustkorb, der sich während eines Anfalls so anfühlt wie eine zu kleine Eisenrüstung. Über das unvorstellbare Gefühl der Bedrohung, das ihn zum Weglaufen zwingt. Über die Flucht, die den Herzschlag noch beschleunigt, die Rippen auseinander bläht, als wollte er die Rüstung sprengen. Über die unerträgliche innere Unruhe, mit welcher er morgens aufwacht und abends einschläft. Über die verlorene Hoffnung, dass das irgendwann weg geht, dass es nicht für immer so bleibt. Über die Welt außerhalb seines Körpers, die ihm feindlich und gefährlich vorkommt. Über immer wiederkehrende makabere Träume, in welchen er unter Sand verschüttet ist wie im Grab und in der Dunkelheit die Papiertüte nicht finden kann. Und wenn er sie am Ende doch findet, ist sie voll mit geronnenem Blut, vermischt mit Sand. Über die Scham, wenn andere seine Angst nicht verstehen, und ihn behandeln wie einen weltfremden Psychopaten und im besten Fall wie einen Wilden. Über die Papiertüten in jeder seiner Taschen und die Aufdringlichkeit des ständigen Nachprüfens, ob die Tabletten da sind. Und endlich darüber, dass er zum Egoisten geworden ist, einem hypochondrischen Narzisten, der ständig seinen Körper observiert, welcher ihm immerzu fremder erscheint, als wäre er komplett aus Transplantaten zusammengesetzt. Auch über die eisige Kälte, in der er lebt. Darüber, dass er seit einem Jahr nicht weint, dass ihn alles kalt lässt, keine Wut fühlt und sich nicht freuen kann, nicht lachen oder mitfühlen. Darüber, dass das Überleben eines Tages ohne Angst für ihn das einzige, letztendliche Lebensziel ist.

Danach gefragt, war er nicht in der Lage, zu sagen wovor er eigentlich Angst hat. Er fürchtet sich nicht vor der Zukunft, weil die Zukunft für ihn höchstens zwanzig Stunden sind, die er durchhalten muss nach dem Erwachen. Eben genau das, um durch zu halten. Wer über ein Überleben von höchstens zwanzig Stunden nachdenkt, hat einen ziemlich kurzen Horizont der Zukunft und sollte überhaupt keine Existenzängste haben, nicht wahr? Er hat nicht das Gefühl etwas erstreben zu müssen. Alles ereignet sich neben ihm, ohne sein Zutun. Er ist wie ein etwas zu früh herausgezogener kleiner, verschrumpelter, schutzloser Embryo, dessen einzige Aufgabe es ist, zu verdauen und zu kacken.

Er nimmt an Kolloquien teil und legt Prüfungen ab, hat das aber für ihn nur die selbe kleine Bedeutung wie morgens Zähneputzen. Es gehört einzig zum Ritual des Wartens auf die Veränderung. Er wartet auf den Tag oder die Nacht, in der das alles endet und dieser ihn ausfüllende und in ihm kreiselnde Dämon in seinem Körper und Gehirn für sich einen Ausgang findet, heraus kommt, sich mit der Luft vermischt und nicht mehr zu ihm zurück kommt.

Während des Wartens tut er das alles, was er davor auch getan hat, um- wenn dieser Moment endlich kommt- nicht vor einer Ruine zu stehen unter welcher seine Lebenspläne liegen. Die Pläne der Vergangenheit, weil er schließlich keine neuen Pläne macht. Manchmal scheint es ihm auch, dass dieses Warten keinen Sinn macht und es das Warten auf Godot ist.

Er wünscht sich nicht den Tod, aber er fürchtet ihn auch nicht besonders. Wenn man in eine Papiertüte atmet, während man in einer zum Umfallen stinkenden Kabine einer Bahnhofstoilette sitzt und darüber nachdenkt, wie weit es bis zum nächsten Krankenhaus ist, denkt man völlig anders über den Tod. Er  möchte nicht in dieser Toilette sterben. Wenn schon, dann bevorzugt er das saubere Bett im Krankenhaus.

Er weiß fast alles über die Biologie der Angst. Der Internist in der Akademie verschreibt ihm alles, wonach er bittet. Manchmal kommt er mit Namen von Medikamenten, die er bis dahin noch nicht gehört hatte. Er weiß, dass die Tabletten Opiate sind, und dass sie abhängig machen. Relanium, Ellanium, Xanax, Diazepam, Valium, Lorazepam, Oxazepam. Er nahm sie alle. Er wurde nicht abhängig. Er kam auf den Gedanken, seinen Organismus zu überlisten. Vor Ablauf von sechs Wochen änderte er zyklisch die Tabletten, die er schluckte. Er bat einen Kommilitonen, der Pharmacie studierte, ihm die Struktur der Tabletten aufzuzeichnen, die er schluckte. Jedes Medikament unterschied sich um das Minimum eines Atoms vom anderen. Er machte sich eine Grafik. Sie hängt über dem Bett in der Akademie. Der Organismus gewöhnt sich an eine Substanz im ganzen. Die Änderung eines einzigen Atoms ist für den Organismus eine unerwartete Überraschung. Plötzlich ist es Fluor, anstatt Brom. Das bedeutet für den Körper, sich abhängig zu machen von etwas anderem und das zu vergessen, woran er sich gewöhnt hat während der letzten sechs Wochen. Nach sieben verschiedenen Spezifika hat man zum abhängig werden zweiundvierzig Wochen Zeit. Nach so langer Zeit kann man den Zyklus von vorn anfangen. Der Arzt meinte, dass das ein genialer Gedanke sei und verschreibt Opiate nach seinem Muster. Als er das erzählte, lächelte die Ärztin geringschätzig. „Ich habe schon lange nicht mehr solchen Blödsinn gehört.“ sagte sie und schaute ihm geradeaus in die Augen. „Sie sollten den Internisten wechseln. Wenn dieser Idiot an ihre Märchen über Atome glaubt, dann heißt das, er kann höchstens eine Erkältung, eine Angina oder am besten nur Halsschmerzen behandeln. Das Gehirn sollte man lieber in Ruhe lassen. Ein Dämlack ist das, sagte sie die Stimme erhebend.- Die Rezeptoren im Gehirn sind durchlässig für den Korpus der Strukturen. Benzozweiazepin. Was an ihnen dranhängt, ob Fluor oder Brom hat nicht die kleinste Bedeutung. Das Mädchen, mit dem sie bei ihrem ersten Besuch die Freude hatten, sich kennen zu lernen, Magda, schnitt sich die Pulsadern auf, als ihr das Oxazepam ausging. Sie brachten sie in eine Klinik, als sie die Entwöhnung nicht durchhielt. Und sogar das hat nicht geholfen. In der Nacht, barfuss und im Pyjama riss sie aus dem Krankenhaus aus und schlug mit einem Stein die Fensterscheibe der Apotheke ein. Der Reihe nach war sie von allem abhängig, was sie miteinander abgewechselt haben, und noch von ein paar anderen Medikamenten. Wenn es nicht gelingt, sie noch einmal in die Klinik zu bringen, steht sie in kürzester Zeit auf dem Fensterbrett irgendeines Hochhauses oder steckt den Kopf in den Backofen… Schmeißen sie ihre Grafik am besten sofort weg und stellen sie am besten niemandem mehr ihre absurden Theorien vor. Vor allem keinem Arzt. Denen scheint es ja so vorzukommen, als wenn jemand, der den Beipackzettel eines Medikaments versteht, schon stundenweise in der Notaufnahme arbeiten kann.“

Erst während des vierten Besuchs erzählte er von Marta. So ungefähr erinnerte er sich noch, dass er den ersten Anfall kurz nach dem Vorfall mit Marta erlebte, aber er konnte ganz und gar nicht glauben, dass das der Hauptgrund für seine Angstneurose sein könnte. Er hatte überhaupt keinen Grund, sich vor Marta zu fürchten. Er mochte sie hassen, was er in manchen Momenten gerne gewollt hätte, was ihm aber nie gelang, es mochte ihm leid tun, er mochte sie verachten, aber er meinte, dass es keinen Grund gäbe, Angst vor ihr zu haben. Wenn sie zusammen waren, was auch immer das hieß, fühlte er sich mit ihr immer sehr sicher.

Die Psychiaterin nahm seine Erzählung ohne besondere Verblüffung hin.

„Lieben sie sie immer noch?“ fragte sie plötzlich, ohne den Kopf von ihren Notizen zu nehmen, die sie die ganze Zeit in seine Patientenakte schrieb.

Er schaute sich im Zimmer um, um sicher zu gehen, das die Frage wirklich für ihn bestimmt war. Sie fragte ihn so etwas wichtiges auf eine Art, als würde sie fragen, ob ihm die Blase wehtut, oder ob er harten Stuhlgang hat. Völlig gleichgültig, ohne jede Emotion. Er blickte sie vorwurfsvoll an. Sie wartete mit dem Kugelschreiber in der Hand, als wenn sie die Antwort in irgendeine Rubrik in einer Tabelle eintragen müsste.

 

                                                             *

 

Es war fast ein Jahr vergangen, seitdem er Marta das letzte Mal gesehen hatte. Eine Woche nachdem er vor ihrer Tür davongelaufen war, holte er den Rucksack  bei der Pförtnerin in der Akademie ab, welchen jemand dort für ihn abgegeben hatte. Wegen diesem Rucksack fuhr er damals in ihre Krakauer Wohnung. Einige Tage später, als er im Vorlesungsgebäude seine Mitschriften ordnete, welche er zusammen mit dem Rucksack wiederbekommen hatte, fand er einen Umschlag mit einem Brief von Marta.

 

Dieser Mann hat für mich überhaupt keine Bedeutung. Er blieb bei mir, weil er nicht wusste, wo er übernachten sollte. Ich erlaubte ihm nicht einmal, neben mir auf dem Fußboden zu schlafen. Dieser Platz ist nur für dich da. Wenn ich hinter ihm hergehe, merke ich, wie sehr du mich verehrt hast. Vielleicht zu sehr.

Ich habe dich nie betrogen. Ich würde mich vor mir selbst ekeln, wenn es anders wäre.

Ich konnte nicht mit dir sein. Du würdest mich wieder einsperren. Vielleicht, weil ich keine andere Wahl hatte, die Mutter zu lieben, die das tut, aber so einen Mann kann man nicht lieben. Du jedoch hast Liebe verdient.

Marta

PS: ich trinke keine Milch mehr. Ich kehre für immer nach Warschau zurück. Grüße die Berge von mir…

 

Obwohl er ihn auswendig kennt, liest der den Brief heute noch. Hauptsächlich deswegen, um zu sehen, ob er das Leiden erträgt. Einfach nur leiden. Er wollte wie andere Menschen in so einer Situation normal leiden. Einfach leiden. Sich nach ihr sehnen. Ihr Foto abreißen und wieder ankleben, sie verfluchen, sie verabscheuen, ihr Schimpfwörter als Namen geben, ihr Rache schwören, mit der Faust auf den Tisch hauen, sich erniedrigt fühlen, grenzenlos beleidigt, gedemütigt, zertreten. Zufällig ein Andenken an sie finden, es in Wut zerstören und am nächsten Tag bereuen, dass nichts von ihr übrig geblieben ist. Sich unaufhörlich einreden, dass sie es nie wert war und nie wert sein wird, dass ihm eine bessere Frau zusteht. Sich diese Worte am besten auf die Arme tätowieren, falls das Einreden nicht hilft.

Ihr Briefe voller Hass schreiben und sie niemals abschicken, sie nachts anrufen, um nicht ein Wort herauszubringen. Schmerz fühlen, Hass, Misstrauen, egal sein. Oder sich bis an die Grenzen der Lethargie besaufen, was zu Vergessen führt und morgens aufwachen mit leeren Flaschen ums Bett herum. Sich versprechen, ihr niemals zu verzeihen und ihr schon eine halbe Stunde später verzeihen. Sie jeden Tag vergessen und sich versprechen, sie am nächsten Tag wirklich zu vergessen. Sich nach ihrer Anwesenheit sehnen, wenn es ihm schlecht geht und sich noch schlechter fühlen, während er sich in Gedanken für diese Sehnsucht verflucht.

Nein, er fühlte nichts davon. Er konnte es damals nicht, um so mehr fällt es ihm heute schwer, dieses Leiden aus sich heraus zu arbeiten. So gern hätte er gewollt. Aber er kann nicht. So als wenn etwas ihm das nicht erlaubt. Durch diese verdammte Angst kann er keine Traurigkeit empfinden, die so stark in ihm anwachsen würde, dass er sich wenigstens ausheulen könnte. Trotzdem erinnert er sich, wie befreiend dieses Schluchzen seien kann. Früher mochte er, gerührt zu sein. Am Anfang, wenn die Mutter ihm Geschichten erzählte oder laut vorlas, später als er selbst anfing, zu lesen. Wenn er mit Marta ins Kino ging, musste er sich sehr darauf konzentrieren, dass sie nicht merkte, dass er weinte, wenn sich auf der Leinwand etwas ereignete, das ihn berührte und sie oft nicht einmal bemerkte.

Es zwickte ihn, dass Marta manchmal kicherte über seine, wie sie es nannte, „volkstümliche Empfindlichkeit auf dem Sofa vorm Fernseher“. Er konnte gerührt sein von einem Foto, auf dem sie sich als kleines Mädchen weinend an ihren Vater kuschelt. Sie sah darin nur eine von vielen Begebenheiten aus ihrer Biografie, die von einer Fotoplatte registriert wurde.

„Was ist daran so besonders?“ fragte sie verwundert? „Jeder hat solche Bilder im Album. Außerdem kann ich es nicht leiden, fotografiert zu werden. Wem nützt es zu wissen, dass ich dort war, das gemacht habe, und dieses und kein anderes Unterhemd hatte“ gab sie erregt hinzu.

Er konnte sich nicht einverstanden erklären mit dieser Note Verachtung in ihrer Stimme, während sie das Wort „jeder“ aussprach. Er verlor dann das Gefühl, das er für sie eine besondere Bedeutung hat, wenn sie ihn auch zu diesen gewöhnlichen „jeden“ zählte.

„Deine Feinfühligkeit grenzt an eine Neurose. Du bist berührt vom Schicksal der Bettlerin auf dem dreckigen Bürgersteig genauso wie von einer Passion von Bach. Du machst es dir selbst schwer. Du hörst auf, zu unterscheiden, was wirklich wichtig ist.“ sagte sie eines Tages zu ihm „Du hättest am liebsten, dass ich, wenn du im Kino gerade mal wieder in Tränen aufgelöst bist, sie dir mit Küssen trockne und deine Hand halte, bei diesem ganzen Schmerz, nicht wahr? Nimm es mir nicht übel, aber in solchen Momenten möchte ich am liebsten lachen und mich nicht dieser Empathie hingeben.“

Von diesem Tag an, versuchte er seine Bewegtheit vor ihr zu verbergen.

Marta brauchte, um in Stimmung zu kommen, eine festliche Bekleidung, Kerzen, einen Konzertsaal und die Gewissheit, dass sie teilnimmt an etwas mystischem, nur für Auserwählte veranstaltet und nicht zugänglich für die „durchschnittliche Masse“.

 

 



[1] Name des Dorfes

[2] Zigarettenmarke

[3] Koseform von Adam

[4] wie Stasiek Koseform von Stanislaw

[5] Goral= Bergbauer, Hinterwäldler, Bezeichnung für traditionsbewusste, folkloristische Menschen, die in den Bergen wohnen

[6] Fritz ist für Polen ein Synonym für Deutsche

[7] Royal Air Force

[8] sie meint damit Shilla